Gleb Garanich/REUTERS

Sind sich nicht grün: Der ukrainische Oberkommandierende Saluschnij und Präsident Selenskij (Kiew, 24.8.2023)

Wenn man ermessen möchte, wie hoch der Regierung das Wasser inzwischen steht, könnte man ein am Mittwoch vormittag verbreitetes Foto vom Kiewer Hauptbahnhof als Indiz heranziehen. Es zeigt die notorische Victoria Nuland beim Verlassen des Nachtzugs aus Polen. Wenn die USA schon eine Vizeministerin um die halbe Welt schicken müssen, um »ihre tiefe Verbundenheit« usw. zu bekunden, dann muss es hinter den Kulissen wüst zugehen.

Das hat seine objektive und seine subjektive Seite. Von der objektiven Seite her lässt Wolodimir Selenskijs Behauptung vom Dienstag, der Weg zur Freiheit der Ukraine führe über eine eigene nationale Waffenproduktion, zwei Dinge erkennen: erstens die Einsicht, dass der Nachschub aus Westeuropa und den USA mittelfristig hinter den Bedürfnissen der Ukraine zurückbleiben dürfte. Und zweitens den Willen, sich von solchen Schranken nicht zurückhalten zu lassen. Denn, wieder O-Ton Selenskij, ohne Gewalt sei die Freiheit der Ukraine nicht zu erreichen. Damit führt Selenskij seine Behauptungen im ARD-Interview vom Wochenende, er wäre »glücklich«, wenn der Krieg rasch enden könnte, ad absurdum und erweist sie als Gesäusel mit nichts dahinter, das an ein mutmaßlich nicht »kriegstüchtiges« deutsches Publikum gerichtet war.

Die subjektive Seite der Krise in der ukrainischen Führung ist der Anfang dieser Woche offen zutage getretene Streit zwischen Selenskij und Armeechef Walerij Saluschnij. Der Präsident braucht dringend einen Sündenbock für die gescheiterte Sommeroffensive, da böte sich der Oberkommandierende im Prinzip an. Aber der hat offenbar mit seinem Eingeständnis, der Krieg stecke in einer Sackgasse, einen Nerv in Armee und Bevölkerung getroffen: sein »Defätismus« zu einem Zeitpunkt, als Selenskij noch Zweckoptimismus verströmte, hat seiner Popularität nicht geschadet, ganz im Gegenteil. Wie tief Selenskij in der Bredouille steckt, zeigte sich auch daran, dass die beiden Militärs, die er als Nachfolger Saluschnijs im Auge hatte, abgewunken haben. Wer lädt sich schon gern die Verantwortung für eine Situation auf, in der es wenig zu gewinnen gibt, zumal eine Entlassung in Ungnaden schon zum Amtsantritt absehbar wäre?

Im übrigen war der eine Kandidat, General Olexandr Sirskij, als Saluschnijs Untergebener mit zuständig für die »Sackgasse«, und der andere, der Chef des Militärgeheimdienstes und bekannte Banderist Kirill Budanow, hat mehrere unter hohen Verlusten gescheiterte Stoßtruppunternehmen angeordnet. Einen rücksichtslosen Schlächter wie ihn zum Armeechef zu machen, hätte den Bemühungen der ukrainischen Führung, den verbreiteten Wehrunwillen zu überwinden, mehr geschadet als genutzt. Dazu kommen noch neue Korruptionsfälle an der Spitze des ukrainischen Verteidigungsministeriums. Allein seit vergangenem Herbst sollen mehrere hundert Millionen Dollar unterschlagen worden sein.

QOSHE - Kiew in der Sackgasse - Reinhard Lauterbach
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Kiew in der Sackgasse

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31.01.2024

Gleb Garanich/REUTERS

Sind sich nicht grün: Der ukrainische Oberkommandierende Saluschnij und Präsident Selenskij (Kiew, 24.8.2023)

Wenn man ermessen möchte, wie hoch der Regierung das Wasser inzwischen steht, könnte man ein am Mittwoch vormittag verbreitetes Foto vom Kiewer Hauptbahnhof als Indiz heranziehen. Es zeigt die notorische Victoria Nuland beim Verlassen des Nachtzugs aus Polen. Wenn die USA schon eine Vizeministerin um die halbe Welt schicken müssen, um »ihre tiefe Verbundenheit« usw. zu bekunden, dann muss es hinter den Kulissen wüst zugehen.

Das hat seine objektive und seine subjektive Seite. Von der objektiven Seite her lässt Wolodimir Selenskijs Behauptung vom Dienstag, der Weg zur Freiheit der Ukraine führe........

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