Ob die Berliner Bürger wohl mehrheitlich dem Bundesverfassungsgericht dankbar sind – und Friedrich Merz und der Bundestagsfraktion von CDU und CSU nicht mehr so gram, wie es die Ampelregierung nach dem Scheitern ihrer Haushaltseskapaden in Karlsruhe gerne hätte? Denn diesmal folgte das höchste deutsche Gericht der Argumentation der Union nicht, wonach es zur Heilung der eklatanten Wahlfehler bei der Ausrichtung und der Durchführung der Bundestagswahl am 26. September 2021 damit nicht sein Bewenden haben könnte, dass die Wahl nur in 431 von 2256 Wahllokalen in der Bundeshauptstadt wiederholt werden muss. Nun sind es 445.

Aber auch das bedeutet, dass gerade einmal jeder fünfte Wahlberechtigte in den kommenden Wochen eine Wahlbenachrichtigung erhalten wird – und nicht die Wahlberechtigten in sechs der zwölf Bundestagswahlkreise, wie von dem damaligen Bundeswahlleiter Georg Thiel in einem aufsehenerregenden Einspruch gefordert, geschweige denn alle Berliner, wie es der Verfassungsgerichtshof des Landes im vergangenen Winter entschieden und eine komplette Wiederholung der gleichzeitig abgehaltenen Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksversammlungen der Millionenstadt anberaumt hatte.

Tatsächlich musste der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts wie zuvor der Verfassungsgerichtshof in Berlin demokratietheoretisches wie demokratiepolitisches Neuland betreten, um das Bestandsinteresse einer gewählten Volksvertretung gegen das Korrekturinteresse abzuwägen.

Dabei hat sich getäuscht, wer in der Entscheidung der Berliner Verfassungsrichter ein Präjudiz für das Urteil aus Karlsruhe sah. Die Richter der Bundeshauptstadt hatten im November 2022 angesichts der gravierenden und flächendeckenden Wahlfehler von der Unterbrechung der Wahl aufgrund fehlender Stimmzettel, Wartezeiten von mehr als einer Stunde oder auch der Öffnung vieler Wahllokale bis weit nach 18 Uhr keine andere Möglichkeit gesehen, als die Wahl zum Abgeordnetenhaus in Gänze für ungültig zu erklären. Andernfalls würde das Ansehen der Demokratie in Berlin „dauerhaft und schwerwiegend beschädigt“.

Dieses Risiko sahen die Bundesverfassungsrichter mehr als ein Jahr später anscheinend nicht mehr. Damit rücken sie nur die Berliner Richter in ein schlechtes Licht und geben die Expertise des Bundeswahlleiters der Lächerlichkeit preis. Mehr noch: Sie tun auch der Demokratie einen Tort an. Wenn selbst schwere, flächendeckende Demokratieverstöße nicht dazu führen, dass eine Wahl als solche wiederholt werden muss, dann sollte sich niemand wundern, dass das Vertrauen der Bürger in demokratische Verfahren und Strukturen verdunstet wie Schnee in der Sonne.

Dabei hat dieses schon genug gelitten, sind doch zwischen dem Tag der Bundestagswahl und der abschließenden Entscheidung über ihre Gültigkeit mehr als zwei Jahre vergangen. Aber auch dieser Makel fällt nicht auf die Opposition im Bundestag zurück, hat diese doch nur von ihrem Recht Gebrauch gemacht, Regierungshandeln auf seine Übereinstimmung mit der Verfassung zu überprüfen. Es ist vielmehr die Dysfunktionalität des Wahlprüfungsverfahrens, die dazu geführt hat, dass die Berliner Bundestagsabgeordneten mehr als die Hälfte der Legislaturperiode mit der Ungewissheit leben mussten, ob ihr Mandat rechtmäßig zustande gekommen war oder nicht. Aber nicht genug damit, dass die Bundestagsmehrheit auf der ersten Stufe des Prüfungsverfahrens in eigener Sache entscheiden kann.

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Die Überprüfbarkeit dieser Entscheidung durch das nicht an Fristen gebundene Bundesverfassungsgericht führt nachgerade zwangsläufig dazu, dass die Legitimität des Parlamentes über Jahre in Frage stehen kann. Eine Neufassung des entsprechenden Artikels des Grundgesetzes ist daher dringend geboten. Namhafte Stimmen aus der Rechtswissenschaft fordern dies schon lange. Der Bundestag hat sich indes immer taub gestellt. Sollte die Klage der CDU/CSU-Fraktion in Karlsruhe nun einen Sinneswandel befördern, sollten die Bürger Berlins auch Friedrich Merz und seiner Union doch noch ein wenig dankbar sein. Und mit ihnen alle Bürger dieser Republik.

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Eine Fehleinschätzung sondergleichen

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19.12.2023

Ob die Berliner Bürger wohl mehrheitlich dem Bundesverfassungsgericht dankbar sind – und Friedrich Merz und der Bundestagsfraktion von CDU und CSU nicht mehr so gram, wie es die Ampelregierung nach dem Scheitern ihrer Haushaltseskapaden in Karlsruhe gerne hätte? Denn diesmal folgte das höchste deutsche Gericht der Argumentation der Union nicht, wonach es zur Heilung der eklatanten Wahlfehler bei der Ausrichtung und der Durchführung der Bundestagswahl am 26. September 2021 damit nicht sein Bewenden haben könnte, dass die Wahl nur in 431 von 2256 Wahllokalen in der Bundeshauptstadt wiederholt werden muss. Nun sind es 445.

Aber auch das bedeutet, dass gerade einmal jeder fünfte Wahlberechtigte in den kommenden Wochen eine Wahlbenachrichtigung erhalten wird – und nicht die Wahlberechtigten in sechs der zwölf Bundestagswahlkreise, wie von dem damaligen Bundeswahlleiter Georg Thiel in einem aufsehenerregenden Einspruch gefordert, geschweige denn alle Berliner, wie es der Verfassungsgerichtshof des Landes im vergangenen Winter entschieden und eine komplette Wiederholung der........

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