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Michail Bulgakow im Jahre 1935 in Moskau

Der 1. April ist ja schon eine Weile vorbei, deshalb soll hier gar nicht erst behauptet werden, das schwäbische Städtchen Marbach am Neckar wolle seinen berühmtesten Sohn wegen unschwäbischer Umtriebe – insbesondere Flucht aus dem Militärdienst und weitere Tätigkeit im Ausland – posthum ausbürgern. Um so etwas ganz im Ernst zu erleben, muss man schon in die Ukraine gehen. Dort hat das Institut für Nationales Gedenken – eine Behörde zur Normierung des historischen Gedächtnisses auf das »Narrativ« der ukrainischen Nationalisten – jetzt den nächsten Versuch unternommen, den russischen Erzähler und Dramenautor Michail Bulgakow aus dem kulturellen Erbe der Ukraine und insbesondere der Stadt Kiew zu streichen. Auch die Gedenkstätte in seinem Geburtshaus am Andrejewskij Uswis (Andreassteig) in Kiew soll geschlossen werden. Begründung jeweils: Bulgakow sei zwar in Kiew geboren, aber er habe auf Russisch geschrieben, er habe kein Verständnis für die nationale Identität der Ukrainer gezeigt, und einer seiner Romanhelden habe sich sogar über die ukrainische Sprache lustig gemacht (was stimmt, nachzulesen in »Die Weiße Garde«). Bulgakow als Opfer der Cancel-Unkultur befindet sich in guter Gesellschaft. Ebenfalls im Februar hatte der Kiewer Stadtrat die Bulgakow-Straße im Zug des Kampfs mit dem »imperialen Erbe« umbenannt und bei der Gelegenheit auch die Tschaikowski-Straße der US-Vizeaußenministerin Victoria Nuland zugeeignet.

Aber »Manuskripte brennen nicht«. Bulgakows Schriften sollen gnädigerweise nicht verboten werden. So wird etwa seine Erzählung »Das hündische Herz« weiterhin empfohlen – wegen ihrer Satire auf den Vulgärmaterialismus und den Opportunismus in der Kulturpolitik der frühen Sowjetunion. Dass mal bloß niemand auf die Idee kommt, das »Hündische Herz« mit der geistigen Atmosphäre der freien Ukraine zu vergleichen.

QOSHE - Unperson des Tages: Michail Bulgakow - Reinhard Lauterbach
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Unperson des Tages: Michail Bulgakow

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11.04.2024

ITAR-TASS/imago

Michail Bulgakow im Jahre 1935 in Moskau

Der 1. April ist ja schon eine Weile vorbei, deshalb soll hier gar nicht erst behauptet werden, das schwäbische Städtchen Marbach am Neckar wolle seinen berühmtesten Sohn wegen unschwäbischer Umtriebe – insbesondere Flucht aus dem Militärdienst und weitere Tätigkeit im Ausland – posthum ausbürgern. Um so etwas ganz im Ernst zu erleben, muss man schon in die Ukraine gehen. Dort hat das Institut für........

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