dpa/AP Photo/Alex Babenko

Ukrainische Marineinfanteristen auf dem Dnipro (14.10.2023)

Nachrichten aus dem Krieg sind immer mit besonderer Vorsicht zu behandeln. Informationen aus erster Hand sind rar, und jede Seite versucht, die Lage in ihrem Sinne darzustellen. Daran sollte man sich erinnern, wenn man jetzt den ukrainischen Staatschef Wolodimir Selenskij Erfolgsmeldungen über die militärische Situation verbreiten hört.

Wo Selenskij recht hat: Es ist der Ukraine gelungen, Russland mit Hilfe westlicher Antischiffsraketen aus dem Westteil des Schwarzen Meeres zu verdrängen. Die russische Schwarzmeerflotte hat ihre kampfkräftigsten Schiffe – nachdem sie etliche Verluste erlitten hatte – in Basen an der Kaukasusküste zurückgezogen. Und der Plan, einen alten sowjetischen Marinestützpunkt in der formal unabhängigen Republik Abchasien zu reaktivieren, deutet darauf hin, dass sich die russische Führung auf diese Lage bis auf weiteres eingestellt hat. Damit dürfte auch der ukrainische Getreideexport auf dem Seeweg auf absehbare Zeit nicht mehr zu verhindern sein.

Aber die faktische Räumung der russischen Marinebasen auf der Krim bedeutet nicht, dass die Ukraine der Rückeroberung der Halbinsel viel näher gekommen wäre. Zwar sind es vom Unterlauf des Dnipro bis an die Pforten der Krim in Luftlinie nur etwa 90 Kilometer; aber der Fluss bleibt ein militärisches Hindernis – für jeden Angreifer. Russland hat die zeitweise eroberten Gebiete am Westufer des Dnipro vor etwa einem Jahr geräumt, weil ihre Versorgung angesichts einer begrenzten Zahl von Brücken und ukrainischer Angriffe gegen diese nicht mehr aufrechtzuerhalten war. Insofern ist die ukrainische Sprachregelung von der angeblichen »Befreiung« von Cherson sowieso schief. Mehr als eine Frontbereinigung war es nicht.

Dass die Ukraine ein paar Auwälder und Datschensiedlungen mit Kräften ihrer Marineinfanterie besetzt hat, bedeutet nicht, dass in absehbarer Zeit aus diesen Brückenköpfen heraus eine Bodenoffensive in Richtung Krim starten könnte. Dazu fehlt ihr mindestens eine entscheidende Voraussetzung: Luftüberlegenheit. Die ukrainische Luftwaffe ist inzwischen auf unter 20 aktiv kampffähige Maschinen dezimiert worden – für die ganze 1.200 Kilometer lange Front. Damit sichert man keine Flussquerung.

Was also soll die ganze Operation, kleine Trupps von leichter Infanterie auf ein Gelände übersetzen zu lassen, das im Ernst nicht zu verteidigen ist und dem die strategische Tiefe fehlt, um als Ausgangspunkt für weitere Operationen zu dienen? Ein Aspekt dürfte Kriegspsychologie sein: der Öffentlichkeit im eigenen Land einen Erfolg präsentieren zu können. Wichtiger aber ist wohl ein anderer: Solange ukrainische Kräfte am Ostufer des Dnipro präsent sind, muss Russland seine – ohnehin ausgedünnte – Präsenz ihnen gegenüber aufrechterhalten und kann sich nicht leisten, Truppen vom Dnipro an andere Frontabschnitte abzuziehen.

QOSHE - Psychologie bedient - Reinhard Lauterbach
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17.11.2023

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Ukrainische Marineinfanteristen auf dem Dnipro (14.10.2023)

Nachrichten aus dem Krieg sind immer mit besonderer Vorsicht zu behandeln. Informationen aus erster Hand sind rar, und jede Seite versucht, die Lage in ihrem Sinne darzustellen. Daran sollte man sich erinnern, wenn man jetzt den ukrainischen Staatschef Wolodimir Selenskij Erfolgsmeldungen über die militärische Situation verbreiten hört.

Wo Selenskij recht hat: Es ist der Ukraine gelungen, Russland mit Hilfe westlicher Antischiffsraketen aus dem Westteil des Schwarzen Meeres zu verdrängen. Die russische Schwarzmeerflotte hat ihre kampfkräftigsten Schiffe – nachdem sie etliche Verluste erlitten hatte – in Basen an der........

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