Stand: 26.11.2023, 17:25 Uhr

Von: Anetta Kahane

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Meine Eindrücke, Gedanken und Gefühle verändern sich mit jeder Woche, die seit dem 7. Oktober vergeht. Die Kolumne.

Meine Welt hat sich nach dem 7. Oktober, dem Tag des Überfalls der Hamas auf Menschen in Israel, verändert. Meine Eindrücke, Gedanken und Gefühle verändern sich mit jeder Woche, die seither vergeht. Erst der Schock, das Entsetzen, die Trauer über die Taten der Mörder, die sich schon vorher ausgemalt hatten, was sie tun könnten, um das größtmögliche Leid zu verursachen.

Dann kamen die Reaktionen auf diesen Angriff. Und wieder Schock, Entsetzen und Trauer. Und Wut. Ich kenne Antisemitismus mein Leben lang und weiß, was er ist, wenn er vor mir steht. Ihn zu leugnen, sich rauszureden und denjenigen, der ihn wahrnimmt, für verrückt zu erklären – auch das ist mir zutiefst vertraut.

Die Wochen nach dem islamistischen Anschlag weckten in mir die eigenen Erfahrungen und die meiner Familie während der Schoah. Einige wurden von den Nazis einfach abgeschlachtet, andere hatten das Glück, gegen sie kämpfen zu dürfen. Ihre Angst, doch auch ihr kämpferischer Zorn ist mir vertraut. Ich fühle gerade beides. Wie die meisten Juden in Deutschland, deren Furcht wahrzunehmen wichtig ist, will ich nicht auf die Angst reduziert werden.

Dass sich Jüdinnen und Juden heute selbstbewusster zeigen, liegt an Israel, das für Juden die Möglichkeit verkörpert, keine hilflose Minderheit mehr zu sein. Die Hamas hat auf alle Juden gezielt, nicht nur auf Israel – und getroffen. Diese Verbrecher haben der Welt gezeigt, wie furchtbar der Tod sein kann, wenn Sadisten ihn begehen, und dass sie trotzdem und sogar deswegen bejubelt werden. Ihre Verbrechen bestehen auch in ihrer Kriegsführung in Gaza, wo sie Zivilisten bewusst dem Tod ausliefern. Je mehr, desto besser.

Und mit dem Hauptquartier unter einem Krankenhaus zeigen sie dem internationalen Kriegsrecht den Stinkefinger. Wenn heute Jüdinnen und Juden, die das aussprechen, zum Problem gemacht und angefeindet werden, hat der irrationale Judenhass ein neues Niveau erreicht.

Jetzt heißt es einen kühlen Kopf bewahren. Trotz der weltweiten Weigerung zu verstehen, dass Antisemitismus die Mutter aller Zerstörung ist – die von Demokratie, von Freiheit, von Mitgefühl, von Vernunft und Aufklärung. Antisemitismus ist das Gerücht über Juden, ein Gerücht, eine Lüge, ein Konflikt, eine Unklarheit und alles gleichzeitig.

Wenn Jüdinnen und Juden angegriffen werden, muss die Welt mit Antisemitismus umgehen, und das will sie um keinen Preis. Das wäre zu schwierig, es stört die eigenen politischen Gewissheiten, Ideologien und Gefüge. Es stört die eigenen Lebenslügen. Lieber daran scheitern als sich dem stellen? Lieber die nervigen Jüdinnen und Juden weghaben wollen als die Probleme lösen? Lieber den jüdischen Staat abschaffen als die eigenen Probleme begreifen?

Antisemitismus verdreht einfach alles, auch in Deutschland. Die Täter erscheinen hier als die größten Opfer. Wenn es gegen Israel geht, ob in den Universitäten oder als Mob auf der Straße, ist man sich einig. Die Mehrheit sieht sich als Minderheit. Diejenigen, die überall am meisten und am lautesten schreien, sehen sich gecancelt. Wer ihnen widerspricht, spaltet und „triggert“. Und wird weggebrüllt.

Die Dialoge, die in der Welt der Kunst und des Feuilletons so dringend gefordert werden, sollen aber nur Monologe sein. Keine jüdischen Widerworte, es sei denn, es sind Juden, die dieser Mehrheit beflissen zustimmen. Alle anderen bezahlen den Preis. Wenn Juden angegriffen werden, das war schon immer so, dann schadet es den Juden. Ja, vielleicht muss diese Woche die des kühlen Kopfes sein.

Anetta Kahane war Vorsitzende der Amadeu-Antonio-Stiftung.

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Die Woche des kühlen Kopfes

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26.11.2023

Stand: 26.11.2023, 17:25 Uhr

Von: Anetta Kahane

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Meine Eindrücke, Gedanken und Gefühle verändern sich mit jeder Woche, die seit dem 7. Oktober vergeht. Die Kolumne.

Meine Welt hat sich nach dem 7. Oktober, dem Tag des Überfalls der Hamas auf Menschen in Israel, verändert. Meine Eindrücke, Gedanken und Gefühle verändern sich mit jeder Woche, die seither vergeht. Erst der Schock, das Entsetzen, die Trauer über die Taten der Mörder, die sich schon vorher ausgemalt hatten, was sie tun könnten, um das größtmögliche Leid zu verursachen.

Dann kamen die Reaktionen auf diesen Angriff. Und wieder Schock, Entsetzen und Trauer. Und Wut. Ich kenne Antisemitismus mein Leben lang und weiß, was er ist, wenn er vor mir steht. Ihn zu leugnen, sich rauszureden und denjenigen, der ihn wahrnimmt, für verrückt zu erklären – auch das ist mir zutiefst vertraut.

Die Wochen nach dem........

© Frankfurter Rundschau


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