Wir befinden uns im Kant-Jahr. Der Philosoph ist am 22. April vor dreihundert Jahren geboren worden. Das motiviert nicht nur zu Jubelfeiern, sondern zu allerlei Fragen, was sein Werk uns heute noch bedeutet. Die umgekehrte Frage, ob wir uns vor ihm sehen lassen können, wird weniger oft gestellt. Stattdessen wird gefragt, etwa auf „Zeit“-Online, ob Kant heute twittern würde. Ob er uns bei dem ganzen Ärger mit der Künstlichen Intelligenz helfen könnte. Ob er ein echter Aufklärer war. Der Maßstab für echte Aufklärer sind dann natürlich wir selbst.

Man könnte in diesem Stil auch fragen, wie Kant Spaghetti Carbonara zubereitet haben würde, wie er sich in Diskotheken verhalten hätte, was ihm zum Lohnabstandsgebot in der Sozialpolitik eingefallen wäre und ob ihm das Widerstandsrecht der Ukraine hätte einen Aufsatz entlocken können. Man muss diesen Umgang mit ihm wohl einerseits Ausschlachten nennen. Und andererseits Angeberei, denn es werden vollmundig Fragen beantwortet, ohne dass es dafür die mindeste Grundlage gäbe. Daran beteiligen sich auch Philosophen, die man fragen möchte, ob sie es denn moralisch vertretbar oder mit ihrer Würde vereinbar finden, bei einem derartigen Unfug mitzutun. Kant hätte ihnen die Kennzeichnung, „Grillenfänger“ zu sein, „Windbeutel“ und „Klüglinge“, kaum erspart.

QOSHE - Ein Philosoph wird ausgeschlachtet - Jürgen Kaube
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Ein Philosoph wird ausgeschlachtet

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06.03.2024

Wir befinden uns im Kant-Jahr. Der Philosoph ist am 22. April vor dreihundert Jahren geboren worden. Das motiviert nicht nur zu Jubelfeiern, sondern zu allerlei Fragen, was sein Werk uns heute noch bedeutet. Die umgekehrte Frage, ob wir uns vor ihm sehen lassen können, wird weniger oft gestellt. Stattdessen wird gefragt, etwa auf........

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