Die schwierigste und kontroverseste Phase im Zyklus der Geldpolitik ist erreicht, wenn die Inflationsrate ihren Höhepunkt überschritten hat, schneller sinkt als vorhergesehen und die Wirtschaft unter der Wirkung der zur Bekämpfung einer hohen Inflationsrate gestiegenen Zinsen ächzt. Dann entsteht öffentlicher Druck auf die Zen­tralbank, recht bald ihre Leitzinsen zu senken, um eine Erholung der Wirtschaft in Gang zu setzen. Die Inflationsrate, so heißt es dann, werde ohnehin weiter sinken.

In dieser Situation befinden sich derzeit die Federal Reserve in den Vereinigten Staaten, die Bank of England und die Europäische Zen­tralbank. Der Vorsitzende der Federal Reserve, Jerome Powell, hat am Mittwoch nach einer verbreiteten Einschätzung den Weg für Senkungen der amerikanischen Leitzinsen im kommenden Jahr geöffnet, was die Kapitalmärkte erfreut zur Kenntnis genommen haben. Nunmehr wünschen sie sich ebenso wie die Regierungen in der Eurozone von der EZB Hinweise, die auf Leitzinssenkungen im kommenden Jahr deuten. Diesen Gefallen hat ihnen Präsidentin Christine Lagarde in ihrer Pressekonferenz nach der Sitzung des Zen­tralbankrats am Donnerstag nicht getan.

Die Prognosen der EZB sehen für das kommende Jahr eine nur langsame Beschleunigung des Wirtschaftswachstums in der Eurozone auf 0,8 Prozent und einen Rückgang der Inflationsrate auf 2,7 Prozent vor. Damit bliebe die Rate der Geldentwertung auch im kommenden Jahr über der Zielmarke von 2 Prozent. Vieles spricht dafür, den Leitzins in der Eurozone da zu lassen, wo er sich gerade befindet und die weitere Entwicklung in Ruhe abzuwarten.

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In solchen Zeiten hat es keinen Sinn, an vorgefertigten Positionen um jeden Preis festzuhalten. In Deutschland gibt es Stimmen, die den kräftigen Fall der Inflationsrate in den vergangenen Monaten nicht gesehen hatten und nun unbedingt herleiten wollen, warum die Geldpolitik im Zweifel noch einmal den Kurs verschärfen sollte. Andere Stimmen meinen, weil die Inflationsrate kräftig gefallen sei, müsse sie automatisch weiter fallen. Die eine wie die andere Position hat wenig Sinn. Die Geldpolitik braucht Geduld und einen vorurteilsfreien Blick.

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Vorurteilsfreier Blick

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14.12.2023

Die schwierigste und kontroverseste Phase im Zyklus der Geldpolitik ist erreicht, wenn die Inflationsrate ihren Höhepunkt überschritten hat, schneller sinkt als vorhergesehen und die Wirtschaft unter der Wirkung der zur Bekämpfung einer hohen Inflationsrate gestiegenen Zinsen ächzt. Dann entsteht öffentlicher Druck auf die Zen­tralbank, recht bald ihre Leitzinsen zu senken, um eine Erholung der Wirtschaft in Gang zu setzen. Die Inflationsrate, so heißt es dann, werde ohnehin weiter sinken.

In dieser Situation befinden sich derzeit die Federal Reserve in den Vereinigten Staaten, die Bank of........

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