Deutschland steht still – es ist ein Bild, das deutsche und ausländische Medien gern zeichnen, weil es so gut zur politischen Blockade im Land zu passen scheint. Die Deutsche Bahn streikt gerade zum fünften Mal in wenigen Wochen, bei der Lufthansa und den Flughäfen hat man längst den Überblick verloren, welche Gruppe gerade die Arbeit niederlegt, um höhere Löhne zu erzwingen.

Auch politische Akteure zielten zuletzt zunehmend darauf ab, den Verkehr lahmzulegen, seien es die Klimaaktivistinnen der «Letzten Generation», die sich auf den Asphalt klebten, oder die Bauern, die mit ihren Traktoren Strassen blockierten, um ihren Unmut kundzutun.

Sind diese Blockaden nun die neue Normalität? Drohen Deutschland «französische Verhältnisse» – die Konfrontation aller gegen alle statt der gewohnten Suche einer konsensorientierten Gesellschaft nach dem Kompromiss?

Das Bild einer gelähmten Republik täuscht, zumindest die aktuelle Streikwelle hat mit der aktuellen Politik wenig zu tun, sondern hat andere Ursachen. Während der Pandemie hielten sich die Gewerkschaften zurück, jetzt ist der Nachholbedarf dafür umso grösser. Umso mehr, als dem Krieg in der Ukraine die höchste Inflation folgte, die es in Deutschland seit mindestens einem halben Jahrhundert gab.

Den Verlust, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in ihrem Portemonnaie schmerzlich spürten, wollen sie jetzt ausgeglichen haben – mit Lohnsteigerungen von zehn Prozent und mehr. Dass diese Forderungen zu mehr Konflikten mit den Unternehmen führen, erstaunt wenig: 2023 wurde dafür der höchste Wert seit 2010 gemessen. Und das laufende Jahr wird nicht friedlicher werden. Im Vergleich mit anderen grossen europäischen Ländern liegen die Ausstände aber immer noch sehr tief.

Besonders zu reden geben nicht zufällig die Streiks bei den staatsnahen Verkehrsunternehmen. Ihre Gewerkschaften haben besonders mächtige Hebel in der Hand, weil Kampfmassnahmen immer gleich Hunderttausende Menschen in ihrem Alltag treffen.

Der Arbeitskampf der Lokomotivführer der Deutschen Bahn ist ein Sonderfall innerhalb dieses Sonderfalls, vor allem wegen ihres kompromisslosen Anführers Claus Weselsky. Wenn seine 20’000 Leute streiken, fällt fünf bis sieben Millionen Deutschen ihr Zug aus – pro Tag. Die Radikalität seiner Gewerkschaft ergibt sich zum einen aus der Person Weselskys, der eine lange Karriere mit einem spektakulären Erfolg krönen will. Zum anderen daraus, dass diese nicht nur gegen die Deutsche Bahn kämpft, sondern auch gegen die fünfmal grössere Eisenbahngewerkschaft EVG, die ihre Existenz bedroht.

Trotz aller Aufrufe, sich zu mässigen, verschärft Weselsky Mal für Mal die Gangart. Die jüngsten Verhandlungen brach er ab, obwohl er fast all seine Forderungen erreicht hatte. Stattdessen kündigte er an, künftig ohne Vorwarnung streiken zu wollen – was es der sonst schon unzuverlässigen Bahn verunmöglicht, Notfahrpläne aufzustellen.

Diese Rücksichtslosigkeit führt nun dazu, dass in der Politik Forderungen laut werden, das Streikrecht müsse eingeschränkt werden. In Frankreich, Italien oder Grossbritannien gelten bei Arbeitskämpfen, die die kritische Infrastruktur betreffen, Pflichten, einen Notbetrieb aufrechtzuerhalten. In Deutschland fehlt ein solches Gesetz, und die Arbeitsgerichte setzen radikalen Mini-Gewerkschaften wie der Weselskys bisher nichts entgegen.

Dennoch verstellt die Fixierung auf den Lokführer-Berserker den Blick auf das grössere Bild. Die Arbeitskämpfe werden auch heftiger, weil die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zusehends mächtiger werden. Millionen von Boomern werden in den nächsten Jahren pensioniert, in sehr vielen Branchen fehlt es zunehmend an Fachkräften. Die Deutsche Bahn oder die Lufthansa kämpfen längst mit einer Vielzahl von anderen Unternehmen um die besten Leute.

Marcel Fratzscher, der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaft, spricht von einer «Machtverschiebung im Arbeitsmarkt, weg von einem Arbeitgeber- hin zu einem Arbeitnehmermarkt». Streiks würden damit häufiger als in den Jahrzehnten davor. Ein Indiz für diesen Umbruch ist, dass viele Gewerkschaften zuletzt gewachsen sind. Der Deutsche Gewerkschaftsbund warb letztes Jahr 437’000 neue Mitglieder, ein Rekordplus von 37 Prozent. Es ist eine Trendwende – letztmals war der Gesamtbestand im Jahr 2001 gestiegen.

Unternehmen, die fähige Frauen und Männer gewinnen wollen, müssen künftig also bessere Bedingungen bieten, nicht nur, was die Löhne angeht, sondern auch bei Arbeitszeiten oder Kinderbetreuung. Auch die Politik kann helfen, indem sie tiefe und mittlere Löhne steuerlich entlastet. Und die Gewerkschaften sollen natürlich kämpfen – aus gesellschaftlicher Verantwortung aber auch Mass halten. Claus Weselsky ist dafür ein abschreckendes Beispiel.

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QOSHE - Die Macht der Arbeit­nehmenden wächst – diese Streikwelle ist erst ein Anfang - Dominique Eigenmann
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Die Macht der Arbeit­nehmenden wächst – diese Streikwelle ist erst ein Anfang

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08.03.2024

Deutschland steht still – es ist ein Bild, das deutsche und ausländische Medien gern zeichnen, weil es so gut zur politischen Blockade im Land zu passen scheint. Die Deutsche Bahn streikt gerade zum fünften Mal in wenigen Wochen, bei der Lufthansa und den Flughäfen hat man längst den Überblick verloren, welche Gruppe gerade die Arbeit niederlegt, um höhere Löhne zu erzwingen.

Auch politische Akteure zielten zuletzt zunehmend darauf ab, den Verkehr lahmzulegen, seien es die Klimaaktivistinnen der «Letzten Generation», die sich auf den Asphalt klebten, oder die Bauern, die mit ihren Traktoren Strassen blockierten, um ihren Unmut kundzutun.

Sind diese Blockaden nun die neue Normalität? Drohen Deutschland «französische Verhältnisse» – die Konfrontation aller gegen alle statt der gewohnten Suche einer konsensorientierten Gesellschaft nach dem Kompromiss?

Das Bild einer gelähmten Republik täuscht, zumindest die aktuelle Streikwelle hat mit der aktuellen Politik wenig zu tun, sondern hat andere Ursachen. Während der Pandemie hielten sich die Gewerkschaften zurück, jetzt ist der Nachholbedarf dafür umso grösser. Umso mehr, als dem Krieg in der........

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