Tatütata, so macht der Rettungswagen. Wie aber klänge die biografische Errettung? Ich meine mich zu erinnern, dass eine Folge aus drei oder vier Tönen erklang, als die Frau vom Späti vor ein paar Jahren meinen Lotto-Gewinnerschein durch die Maschine zog.

Nun könnte man sich einfach erkundigen, wie Lottogewinne heute vertont werden – und ob das beim Jackpot anders wäre als beim Kleingewinn. Aber genau das will man ja nicht: nachfragen, nachdenken, nachrechnen, schlicht alles Rationale will ausgeblendet sein, wenn man diese Kreuzchen macht.

Und wer bei dieser Gelegenheit einen Anfall von Wahrscheinlichkeitsrechnung erleidet, zerstreut denselben flugs durch allerlei Pseudokalkulationen: Ein Fünftel der Deutschen, so lässt es sich zum Beispiel ergoogeln, spielt laut Statista zumindest gelegentlich Lotto. 2022 hat es laut Deutschem Lotto- und Totoblock 187 Millionengewinne gegeben! Das klingt doch irgendwie schon besser als jene Chance von 1:140 Millionen, bei 6 aus 49 einen Sechser plus Zusatzzahl zu haben. Und wären einige Sorgen nicht schon bei einem Fünfer aus der Welt?

Nicht erst heute wird on- wie offline gewettet und gepokert, dass sich die Balken biegen. Das alte Rom erließ bereits zur Zeit der Republik ein „Würfelgesetz“, weil das Gezocke überhandnahm. Auch staatliche Lotterien, bei denen ein Teil der Wettgelder ausgeschüttet wird, während man einen anderen für öffentliche Angelegenheiten verwendet, haben Geschichte: In Deutschland wird derlei erstmals aus dem Jahr 1610 berichtet, als Hamburg ein neues Zucht- und Arbeitshaus finanzieren wollte. „Das Lotto“ in heutiger Form ist aber ein Kind der bürokratischen Moderne. Hier fordert niemand bei schwitzigem Einsatz seiner Existenz Fortuna heraus. Es gibt keinen Menschenauflauf, kein Fest des Glücks. Pflichtschuldig warnen die Lottogesellschaften vor Suchtgefahr, aber hier erinnert nichts an Dostojewskis Spieler.

Seit jeher war Glücksspiel ein Spiegel menschlicher Gesellschaften, in denen viel Zufall über Status und Zukunft entscheidet. Das haben wir in westlichen Lebenswelten ein wenig vergessen, weil wir uns gern glauben machen, planend-vernünftig Herr der Lage zu sein. Doch so beiläufig das Kreuzchenmachen am Rande des Wocheneinkaufs auch geworden ist: Das Lotto auf dem Zettel gemahnt uns noch immer an die Lotterie des Lebens. Und gerade in seiner Entzauberung, in seiner niedrigschwelligen Alltagstauglichkeit bewahrt das Glücksspiel für fast jedermann auch etwas Aberwitz: durch den enormen Umsatz, den das Lotto macht. Und die schwindelerregenden Gewinnsummen, die deswegen auflaufen, obwohl weniger als die Hälfte der Einnahmen ausgeschüttet wird.

Was würde man tun mit 20, 50, 90 oder 120 Millionen? Wie wäre das Aufwachen am ersten Tag eines neuen Lebens, in dem man nichts mehr müsste? Wäre man federleicht oder von neuen Sorgen geplagt? Würde man Partys schmeißen oder sich heimlich freuen, würde man weiterarbeiten oder nicht? Würde man die eigene Rettung aus der Mühsal der Normalbiografie sozusagen weitergeben, und wer, wenn ja, würde von uns mitgerettet?

Es sind solche Gedanken, die man sich mit einem Lottozettel kauft. Der Spielschein ist eine Lizenz zum Träumen – eine „Baugenehmigung für Luftschlösser“, wie Jens Beckert und Mark Lutter vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung vor 15 Jahren in einer einschlägigen Studie schrieben. Und ist es nicht tröstlich, dass der Markt für diese Art von Architektur nach wie vor so groß ist? Wer über die Taube auf dem Dach sinniert, ist zumindest mir viel sympathischer als all die Leute, die den sprichwörtlichen Spatz fest in den Händen halten.

Deshalb ist es kein Anlass für Kulturpessimismus, dass die Deutschen für das Lotto jährlich in etwa so viel ausgeben wie für Bücher. Die Güter ähneln sich, meinen Sie nicht? Wir können uns bei einem Kiosk-Bier darüber unterhalten, wenn Sie bei meinem nächsten 25-Euro-Gewinn zufällig hinter mir stehen. Das habe ich auch beim ersten Mal gemacht.

Illustration: Geléeregen für der Freitag

Ein Krisenjahr jagt das andere: 2022 war schon hart und 2023 kein bisschen besser. Die Gegenwart mag düster sein, aber es gibt trotzdem die Möglichkeit, ihr etwas Versöhnliches abzugewinnen. Denn wo Scheitern ist, Gefahr oder gar Untergang droht, gibt es immer auch jemanden, der anpackt und versucht, einen Ausweg zu suchen.

Wir haben uns in unserer traditionell monothematischen Jahresendausgabe deshalb mit „Rettung“ beschäftigt, damit das Krisenjahr 2023 für uns alle etwas versöhnlicher endet. Es geht um Feuerwehrleute, Seenotretter:innen, mutige Aktivist:innen, Erlösung durch linke Politik, das Klima oder künstliche Intelligenz ebenso wie um das ultimative Wissen über Superhelden.

Zur gesamten Ausgabe 51/2023

QOSHE - Glücksspiel | Lotto: Lasst uns in ein Luftschloss ziehen - Velten Schäfer
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Glücksspiel | Lotto: Lasst uns in ein Luftschloss ziehen

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20.12.2023

Tatütata, so macht der Rettungswagen. Wie aber klänge die biografische Errettung? Ich meine mich zu erinnern, dass eine Folge aus drei oder vier Tönen erklang, als die Frau vom Späti vor ein paar Jahren meinen Lotto-Gewinnerschein durch die Maschine zog.

Nun könnte man sich einfach erkundigen, wie Lottogewinne heute vertont werden – und ob das beim Jackpot anders wäre als beim Kleingewinn. Aber genau das will man ja nicht: nachfragen, nachdenken, nachrechnen, schlicht alles Rationale will ausgeblendet sein, wenn man diese Kreuzchen macht.

Und wer bei dieser Gelegenheit einen Anfall von Wahrscheinlichkeitsrechnung erleidet, zerstreut denselben flugs durch allerlei Pseudokalkulationen: Ein Fünftel der Deutschen, so lässt es sich zum Beispiel ergoogeln, spielt laut Statista zumindest gelegentlich Lotto. 2022 hat es laut Deutschem Lotto- und Totoblock 187 Millionengewinne gegeben! Das klingt doch irgendwie schon besser als jene Chance von 1:140 Millionen, bei 6 aus 49 einen Sechser plus Zusatzzahl zu haben. Und wären einige Sorgen nicht schon bei einem Fünfer aus der Welt?

Nicht erst heute wird on- wie offline gewettet und gepokert, dass sich die Balken biegen. Das alte Rom........

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