Das (paradoxe) Vorurteil, die alte Königsdisziplin Malerei sei doch tot, gibt es seit mehr als 100 Jahren. Der Abgesang gilt gern als Avantgarde-Geste. Und doch wurde durch die ganze Klassische und Nachkriegs-Moderne hindurch gemalt, bis jetzt. Ohne Unterlass.

Am Zeitrechnungspunkt null nach Mauerfall und deutscher Wiedervereinigung im Jahr 1990 riefen jene, die es ganz genau zu wissen glaubten, die Malerei – also das Prinzip Farbe, Form, Fläche – sei nun endgültig tot, geschluckt und gefressen vom hip klingenden Crossover, von neuen Medien, vom Diskursiv-Installativen; das Sinn-Bildliche mit Vorliebe aufgelöst in wortungetümlichen und für Normalverbraucher möglichst unverständlichen Theorietexten. Offensichtlich, wie sehr die Malerei-Verächtlichkeit sich vor allem gegen die Kunst aus der ehemaligen DDR richtet.

Das wusste schon der alte Goethe: Nicht überall, wo Wasser ist, sind Frösche; aber wo man Frösche hört, ist Wasser. Ganz im Sinne dieser Naturerfahrung entstanden in Berlin die Publikation „Dissonance – Platform Germany“, erschienen im Verlag DCV, und die bereits zweite Ausstellung (kuratiert von Christoph Tannert, Leiter des Berliner Künstlerhauses Bethanien, und Mark Gisbourne) mit Positionen aktueller Malerei, made in Germany. Wobei die meisten der 43 beteiligten Malerinnen und Maler, die nach 1972 geboren wurden, aus Ost, West, Süd und Nord stammen, in Berlin leben und arbeiten und ihre Disziplin und den „Kunstbegriff“ erweitern und Inhalt wie Form ins Mögliche dehnen.

Premiere hat diese fulminante Schau einer quicklebendigen „Toten“ in Kiel, in der dortigen Stadtgalerie. Im Spätherbst wird sie weiterreisen, nach Bukarest, die junge Kunst ins alte Königsschloss. Was gleich auffällt: Es gibt ihn überhaupt nicht mehr in den Bildern, diesen übellaunigen, verbissenen, anachronistischen, ideologischen Dissens von Figuration und Abstraktion, keinen Kanon, umso mehr pluralistische Anzeichen des Übergangs, des Sowohl-als-Auch, farbintensiv, leidenschaftlich, frei von alten Mustern, mal beinahe filmisch erzählend, mal expressiv, dann wider poetisch und auch rätselhaft, lebenshungrig und optimistisch oder auch melancholisch und dystopisch.

•vor 6 Std.

31.03.2024

•vor 5 Std.

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Die Bilder sind wie ein Spiegel unserer Zeit, dieser aufgewühlten, zerrissenen Welt, der vor lauter ungelösten Konflikten die Gewissheiten wie die Utopien abhandengekommen scheinen. Lebendiger, wacher, sich mit ihren Mitteln einmischend kann Malerei nicht sein.

Dissonance – Platform Germany (2). Aus Berlin in der Stadtgalerie Kiel, Andreas-Gayk-Str 31., 24103 Kiel. Bis 26. Mai. Publikation bei DCV (dcv-books.com)

QOSHE - Eine quicklebendige Tote: Malerei aus Berlin reist durch Deutschland und nach Ost-Europa - Ingeborg Ruthe
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Eine quicklebendige Tote: Malerei aus Berlin reist durch Deutschland und nach Ost-Europa

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03.04.2024

Das (paradoxe) Vorurteil, die alte Königsdisziplin Malerei sei doch tot, gibt es seit mehr als 100 Jahren. Der Abgesang gilt gern als Avantgarde-Geste. Und doch wurde durch die ganze Klassische und Nachkriegs-Moderne hindurch gemalt, bis jetzt. Ohne Unterlass.

Am Zeitrechnungspunkt null nach Mauerfall und deutscher Wiedervereinigung im Jahr 1990 riefen jene, die es ganz genau zu wissen glaubten, die Malerei – also das Prinzip Farbe, Form, Fläche – sei nun endgültig tot, geschluckt und gefressen vom hip klingenden Crossover, von neuen Medien, vom Diskursiv-Installativen; das Sinn-Bildliche mit Vorliebe aufgelöst in wortungetümlichen und für Normalverbraucher möglichst........

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