Hinweis: In diesem Artikel geht es um Tod, Verlust und Trauer.

Du kommst nach Hause, und das Kinderspielzeug liegt noch auf dem Boden. Dein Kind wird aber nie mehr damit spielen. Denn dein Kind ist gestorben, während ihr auf Urlaub wart. Niemand will sich eine Situation wie diese vorstellen. Doch sie kann jederzeit eintreten. Wie zum Beispiel am 23. Februar 1999 beim Lawinenunglück im Tiroler Skiort Galtür, bei dem 31 Menschen sterben – darunter zahlreiche Kinder. Deren Eltern müssen allein nach Hause zurückkehren.

Damals schließt sich eine Gruppe junger Psycholog:innen zusammen, um diese Menschen im nahen Krankenhaus Zams, in das sie geflogen werden, zu empfangen. Eine von ihnen ist Barbara Juen: Die damals 29-Jährige bietet ihnen Unterstützung und psychologische Begleitung an. Es ist eine der ersten Katastrophen, bei der Menschen nach einem Schicksalsschlag psychologisch betreut werden. Und für Juen der Start in die Krisenintervention.

Ein Jahr nach Galtür ist sie auch rund um die Brandkatastrophe der Salzburger Gletscherbahn Kaprun im Einsatz, bei der 150 der 162 Passagier:innen durch eine Rauchgasvergiftung sterben. Nach dem Erdbeben im Indischen Ozean 2004 in West-Indonesien und Thailand ist sie ebenfalls vor Ort – durch das Beben und den darauf folgenden Tsunami sterben etwa 230.000 Menschen. Juen ist Mitbegründerin des ersten Kriseninterventionsteams des österreichischen Roten Kreuzes im Jahr 1999 und entwickelte den entsprechenden Lehrplan dafür.

Wir haben mit ihr darüber gesprochen, wie Angehörige nach einem Schicksalsschlag wieder zurück ins Leben finden können.

Was brauchen Menschen als Erstes, die erfahren haben, dass ihr Freund, ihre Partnerin oder eines ihrer Kinder gestorben ist?

Das Erste, was Hinterbliebene brauchen, ist Information. Wo ist mein Verstorbener? Wo kann ich ihn sehen? Was passiert als nächstes? Es gibt viele praktische Fragen, die sich Hinterbliebene stellen. Was passiert mit dem Leichnam?

Wie reagieren Menschen im Schock?

Was sich der Laie unter Schock vorstellt, ist, dass jemand nur dasitzt und vor sich hinstarrt. Aber das gibt es selten. Die Menschen reagieren sehr unterschiedlich. Typisch ist ein Schwanken zwischen Nicht-wahrhaben-Wollen, Verzweiflung und Betäubung.

Hilft es den Trauernden, wenn sie den Leichnam sehen können?

Bei einem plötzlichen Todesfall ist es üblich, dass die Hinterbliebenen den Leichnam zu sehen bekommen, weil sie es sonst gar nicht wahrhaben können. Das trifft vor allem dann zu, wenn es sich um das eigene Kind handelt. Diese Vorstellung, das Kind allein zu lassen, ist viel dramatischer. Es werden dann oft religiöse Rituale wichtig. Auch für Menschen, die gar nicht religiös sind. Es braucht immer noch diese Vorstellung: Da gibt es irgendjemanden, der auf das Kind schaut.

Wenn ein Kind stirbt: Was belastet die Eltern am meisten?

Wenn das Kind stirbt, stellen sich Eltern selbst die Schuldfrage. Haben sie ihr Kind nicht richtig beschützt? Was hätten sie anders machen können?

Und irgendwann müssen sie nach Hause zurück, ohne ihr Kind. Wie können sie das schaffen?

Es gibt viele Fragen, die die Hinterbliebenen selbst beantworten müssen. Beängstigend ist etwa, wenn das Kinderspielzeug noch am Boden liegt. Wollen sie, dass man das Kinderspielzeug wegräumt? Wollen sie, dass es liegen bleibt? Wovor fürchten sie sich am meisten? Das ist individuell komplett unterschiedlich. In Familien müssen diese Entscheidungen ausgehandelt werden. Das ist nicht immer einfach. Der eine will gar nichts sehen, der andere will damit konfrontiert werden.

Angenommen, der Leichnam wird nicht gefunden. Wie lang bleibt die Hoffnung, dass die vermisste Person lebt?

Das ist sehr unterschiedlich. Manche in der Familie haben noch Hoffnung, Andere verlieren die Hoffnung. Wenn jemand vermisst wird, dann ist er nicht da. In solchen Situationen sind Rituale essenziell, damit man als Hinterbliebener oder Hinterbliebene die nächsten Schritte in der eigenen Verarbeitung gehen kann. Das kann zum Beispiel ein Gedenkgottesdienst sein. Aber es ist eines der schwierigsten Dinge überhaupt, wenn es keinen Leichnam gibt. Nach dem Tsunami waren wir heilfroh, dass alle Österreicherinnen und Österreicher identifiziert worden sind.

Nach dem Tod eines Nahestehenden ist viel Bürokratie zu erledigen. Ausstehende Rechnungen, Begräbnis, Erbe. Wie teilt man diese Arbeit im besten Fall auf?

Das stimmt, man muss tausende Dinge abmelden. Oft wird das von einer Person in der Familie übernommen. Und nach ein paar Wochen gibt es einen großen Konflikt. Der aktive Teil der Familie wirft dem anderen Teil vor, nicht mitzuhelfen, und die anderen werfen dem aktiven Teil vor, nicht richtig zu trauern. Deswegen versuchen wir schon am Beginn, die Weichen zu stellen, dass im Grunde jeder trauern darf, wie er will, und wir schauen, dass die Familie nicht auf sich allein gestellt ist. Das Problem gibt es vor allem in der Stadt.

Inwiefern?

In der Stadt fehlen diese klassischen Trauerrituale, bei denen sich das ganze Sozialgefüge auf die Trauer einschwört. Die Betroffenen werden allein gelassen. Sie erzählen uns, dass die Menschen die Straßenseite wechseln, wenn sie sie sehen: Weil sie Angst haben, mit ihnen zu reden, und nicht wissen, wie sie mit ihnen umgehen sollen. Doch Trauernde darf man nicht allein lassen.

Wie ist es auf dem Land?

Wenn jemand am Land verstorben ist, wird der Leichnam zu Hause aufgebettet. Dann kommen die Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Dorf, beten und bringen Essen vorbei. Sie begleiten die Betroffenen im Grund bis zur Beerdigung.

Sind Trauernde in der Lage, selbst Entscheidungen zu treffen?

Angehörige von Toten sind normale, entscheidungsfähige Menschen. Auch in der schlimmsten Situation sind sie nicht Patienten, die man am besten mit Beruhigungsmitteln ruhigstellt. Denn Trauer ist keine Krankheit.

Hört die Trauer jemals auf?

Nein, die Trauer hält ein Leben lang. Die Frage ist vielmehr: Kann ich mein Leben wieder weiterleben? Kann ich wieder neue Beziehungen eingehen? Kann ich meinen Alltag bewältigen? Und das schaffen die meisten.

Bei Naturkatastrophen gibt es keine:n Täter:in. Wie wirkt sich das auf die Verarbeitung aus?

Bei Naturkatastrophen wird die Grundannahme erschüttert, dass die Welt ein sicherer und ein gerechter Ort ist. Nur: Es geht halt nicht gerecht zu auf der Welt.

Krisenintervention Rotes Kreuz: Notruf: 144

Kriseninterventionszentrum: 01 406 95 95

Österreichische Plattform Krisenintervention/Akutbetreuung

Aetas Kinderstiftung Kinderkrisenintervention

Hospiz Österreich Trauerbegleitung

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„Trauernde darf man nicht allein lassen“

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24.03.2024

Hinweis: In diesem Artikel geht es um Tod, Verlust und Trauer.

Du kommst nach Hause, und das Kinderspielzeug liegt noch auf dem Boden. Dein Kind wird aber nie mehr damit spielen. Denn dein Kind ist gestorben, während ihr auf Urlaub wart. Niemand will sich eine Situation wie diese vorstellen. Doch sie kann jederzeit eintreten. Wie zum Beispiel am 23. Februar 1999 beim Lawinenunglück im Tiroler Skiort Galtür, bei dem 31 Menschen sterben – darunter zahlreiche Kinder. Deren Eltern müssen allein nach Hause zurückkehren.

Damals schließt sich eine Gruppe junger Psycholog:innen zusammen, um diese Menschen im nahen Krankenhaus Zams, in das sie geflogen werden, zu empfangen. Eine von ihnen ist Barbara Juen: Die damals 29-Jährige bietet ihnen Unterstützung und psychologische Begleitung an. Es ist eine der ersten Katastrophen, bei der Menschen nach einem Schicksalsschlag psychologisch betreut werden. Und für Juen der Start in die Krisenintervention.

Ein Jahr nach Galtür ist sie auch rund um die Brandkatastrophe der Salzburger Gletscherbahn Kaprun im Einsatz, bei der 150 der 162 Passagier:innen durch eine Rauchgasvergiftung sterben. Nach dem Erdbeben im Indischen Ozean 2004 in West-Indonesien und Thailand ist sie ebenfalls vor Ort – durch das Beben und den darauf folgenden Tsunami sterben etwa 230.000 Menschen. Juen ist Mitbegründerin des ersten Kriseninterventionsteams des österreichischen Roten Kreuzes im Jahr 1999 und entwickelte den entsprechenden Lehrplan dafür.

Wir haben mit ihr darüber gesprochen, wie Angehörige nach einem Schicksalsschlag wieder zurück ins Leben finden können.

Was brauchen Menschen als Erstes, die........

© Wiener Zeitung


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