Berlin Unser Kollege Jan Jessen hat aus den zerstörten Dörfern der Ukraine und den überfallenen Kibbuzen in Israel berichtet. Ein Rückblick

In diesem Jahr feiern die Menschen in der das Weihnachtsfest erstmals offiziell am 25. Dezember. So hat es das ukrainische Parlament im Sommer beschlossen. Es ist eine weitere Abkehr von den Gemeinsamkeiten mit Russland, dem Land, das seit dem Februar vergangenen Jahres einen brutalen Angriffskrieg gegen das Nachbarland führt; es ist eine symbolische Hinwendung zum Westen, wo die Mehrheit der Ukrainer ihre Zukunft sieht. In den Schützengräben an der Front wird es kein Fest des Friedens geben.

Die russische Führung lässt ihre Soldaten ohne Rücksicht auf Verluste gegen die ukrainischen Verteidiger anrennen, der Blutzoll ist horrend. Hinter der Front herrscht die Angst, Moskau könne, wie bereits im vergangenen Winter, die gezielte Zerstörung der kritischen Infrastruktur befehligen und die Städte in Dunkelheit und Kälte bomben lassen. Eine Aussicht auf eine Waffenruhe gibt es nicht. Zwischen den Kriegsparteien herrscht Sprachlosigkeit, und das ähnelt der Situation in dem zweiten Großkonflikt, der in diesem Jahr die Schlagzeilen beherrscht hat.

Der Terror-Überfall der Hamas am 7. Oktober hat Israel zu einer militärischen Gegenreaktion provoziert, die das Leben Hunderttausender Menschen im Gazastreifen zur Hölle macht. Angesichts der Bilder der Zerstörungen und der Berichte über die zahlreichen Opfer steigt der internationale Druck auf die israelische Regierung, die Militäroperation zu mäßigen oder zu stoppen. Bislang gibt es aber wenig Indizien für ein Einlenken, zumal die Hamas trotz des Leidens der Zivilbevölkerung in dem dicht bevölkerten Küstengebiet ihre Attacken nicht stoppt, sondern noch immer Raketen Richtung Israel abfeuert.

Das Trauma des 7. Oktobers sitzt in der israelischen Gesellschaft tief, zu tief, um die eigene Regierung zu Eingeständnissen mit einem Feind zu bewegen, dessen erklärtes Ziel die Auslöschung Israels ist, und der vor elf Wochen bewiesen hat, mit welcher grauenhaften Konsequenz er dieses Ziel verfolgt. Die Gefahr einer noch blutigeren Eskalation in Nahost ist längst nicht gebannt. Die vom Iran gesteuerte libanesische Hisbollah provoziert durch ständige Angriffe auf den Norden Israels, die jemenitischen Huthis bedrohen den Welthandel durch ihre Attacken auf Schiffe im Roten Meer.

Ich habe in diesem Jahr mit vielen Menschen gesprochen, deren Lebenswirklichkeit sich dramatisch verändert hat, weil Mächtige sich gegen ein friedliches Miteinander entschieden haben. Nicht nur in der Ukraine oder in Nahost. Auch in Armenien, wohin die Einwohner Bergkarabachs im September vor dem aserbaidschanischen Überfall auf ihre Heimat geflohen waren, und zu Zehntausenden die Grenze überquerten, ihre alten Autos gefüllt mit den Habseligkeiten, die sie mitnehmen konnten. Die ethnische Säuberung Bergkarabachs war nur eine Randnotiz in diesem Jahr, für die betroffenen Menschen war sie eine Katastrophe, die ihr Leben auf den Kopf gestellt hat.

2023 hat für mich nach rußgeschwärzten Ruinen gerochen, in denen einst Menschen gelebt, gelacht, geliebt haben, und nach den Toten, die in den Kampfgebieten verwesen. 2023 hat für mich nach dem Gellen der Luftalarme geklungen, nach dem Donnern von Explosionen, und den Klagen über Verlust. Es war ein lautes, gewalttätiges Jahr, in dem an viel zu vielen Orten dieser Welt die leisen Töne der Verständigung im Brüllen des Krieges untergegangen sind. Es war ein Jahr, in dem es zu viel Sprachlosigkeit gab.

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Kriegsreporter: Diesen Geruch werde ich nicht vergessen

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23.12.2023

Berlin Unser Kollege Jan Jessen hat aus den zerstörten Dörfern der Ukraine und den überfallenen Kibbuzen in Israel berichtet. Ein Rückblick

In diesem Jahr feiern die Menschen in der das Weihnachtsfest erstmals offiziell am 25. Dezember. So hat es das ukrainische Parlament im Sommer beschlossen. Es ist eine weitere Abkehr von den Gemeinsamkeiten mit Russland, dem Land, das seit dem Februar vergangenen Jahres einen brutalen Angriffskrieg gegen das Nachbarland führt; es ist eine symbolische Hinwendung zum Westen, wo die Mehrheit der Ukrainer ihre Zukunft sieht. In den Schützengräben an der Front wird es kein Fest des Friedens geben.

Die russische Führung lässt ihre Soldaten ohne Rücksicht auf Verluste gegen die ukrainischen Verteidiger anrennen, der Blutzoll ist horrend. Hinter der Front herrscht die Angst, Moskau könne, wie bereits im vergangenen Winter, die gezielte Zerstörung der kritischen Infrastruktur befehligen und die Städte in Dunkelheit........

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