Wer erinnert sich noch, wie Robin Williams im "Club der toten Dichter“ als Lehrer Mr Keating einem Haufen pubertierender Jungs die großen Poeten der USA nahebringt? So unkonventionell, dass er schließlich das Internat verlassen muss. Am Ende stehen seine Studierenden ungehorsam auf den Tischen und rufen mit dem gebührenden Pathos nach ihrem Kapitän: "O Captain! My Captain!“

Jeder, aus dem etwas werden soll, braucht mindestens einen Mr Keating in seinem Leben. Ich jedenfalls brauchte solche Erwachsene gegen das große Grau der Welt, um überhaupt den Mut zu haben, älter zu werden. In den vergangenen Jahren hatte ich den Eindruck, das sei passé. Mr Keating wäre nun ein alter weißer Mann, und die Generation Greta kann das Vorbildsein schon selbst. "Kinder an die Macht!“, sang Grönemeyer und ging, wie ich, der Fantasie von den guten Kindern auf den Leim.

Jagoda Marinić schreibt in ihrer Kolumne über in die Welt, wie sie ihr gefällt – oder auch nicht gefällt. Sie ist Autorin verschiedener Bücher (zuletzt "Made in Germany. Was ist deutsch in Deutschland?", "Sheroes. Neue Held*innen braucht das Land") und Host des Podcasts "Freiheit Deluxe". Als Moderatorin der Literatursendung "Das Buch meines Lebens" (arte), fragt sie bekannte Persönlichkeiten, wie das Lesen ihr Leben verändert hat. Auf Twitter und bei Instagram findet man sie unter @jagodamarinic.

Greta Thunberg kam mit ihrem Schulstreikschild an die Macht. Sie besuchte Staatsmänner, inszenierte ihre Weltreisen, spielte mit der Öffentlichkeit und bekam Applaus von vielen Progressiven. Nun aber skandiert sie im Namen der vermeintlich guten Sache Parolen wie "No climate justice on occupied land.“ Das Problem ist nicht ihre Empathie für Palästinenser, sondern ihre Vorbildfunktion für große Teile ihrer Generation. "O Greta! My Greta!“, dachten irgendwann viele, nun auch, wenn sie Antisemitismus schürt, weil Israel der Okkupator sei.

Ich habe den Mut dieser Jugend lange bewundert, wie sie sich vor die Welt stellte oder nur ein Handy in die Hand nahm, um auf Insta oder Tiktok eine Predigt gegen wer weiß welches Unrecht zu halten. Ich habe die jungen Frauen in den USA bewundert, die wie Alexandria Ocasio-Cortez, kurz AOC, gegen das Trump-Amerika in die Politik gingen. Ich nannte sie "Sheroes“, weil ich dachte, von solchen Frauen geht der Wandel zu einer besseren Welt aus. Mehr Gleichheit, mehr Vielfalt.

Jetzt sehe ich, wie Greta, AOC und andere Progressive Israelfeindlichkeit und Antisemitismus mitschüren, auch, weil es heute als junger Mensch wichtig sein soll zu führen. Ich fand es gut, die Welt nicht den Alten überlassen zu wollen, aber nun zeigt sich, dass der Drang zu führen für viele zur Sucht geworden ist. Die Jungen wollen Meinungsführer sein, egal, ob beim Klima oder bei Gaza. Es braucht Position, nur so leuchten Likes auf.

Auf Tiktok lesen junge Amerikaner nun einen Text von Osama Bin Laden vor. Er ist von Antisemitismus durchsetzt. Sie wollen alle führen, viral gehen, gerecht und gut sein. Tiktok lässt die Videos viral gehen, und ich drehe mich in eine Wertekrise: Wie konnte aus einer Bewegung, in der die Jugend diverser, gleicher und gerechter werden wollte, eine werden, die Bin Laden abfeiert? Unterdessen marschiert Marine Le Pen in Paris gegen Antisemitismus, die Welt steht Kopf.

Ich hasse es, in einem Alter zu sein, in dem ich Jugendbeschimpfung betreibe. Daher beschimpfe ich weiterhin auch meine eigene Generation und die Älteren. Aber noch nie ist einer Jugend so deutlich vermittelt worden, sie könne alles über Bord werfen, man laufe ihr schon nach. Wir hielten sie für mutig, für frei, für die ersten Kids mit Eltern, die wirklich emotional sind statt autoritär. Nur haben, statt den mitfühlenden Eltern, die sozialen Medien die engste Bindung zu ihnen. Wir stehen vor Kids, von denen sich viele um jeden Preis beklatschen lassen wollen. "O Captain! My Captain!“ heißt aber auch, dass ein Kapitän etwas über die See weiß, bevor er anderen etwas über Schiffe erzählt.

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Antisemitismus statt Klimarettung – wie wir der Fantasie von der guten Jugend auf den Leim gehen

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27.11.2023

Wer erinnert sich noch, wie Robin Williams im "Club der toten Dichter“ als Lehrer Mr Keating einem Haufen pubertierender Jungs die großen Poeten der USA nahebringt? So unkonventionell, dass er schließlich das Internat verlassen muss. Am Ende stehen seine Studierenden ungehorsam auf den Tischen und rufen mit dem gebührenden Pathos nach ihrem Kapitän: "O Captain! My Captain!“

Jeder, aus dem etwas werden soll, braucht mindestens einen Mr Keating in seinem Leben. Ich jedenfalls brauchte solche Erwachsene gegen das große Grau der Welt, um überhaupt den Mut zu haben, älter zu werden. In den vergangenen Jahren hatte ich den Eindruck, das sei passé. Mr Keating wäre nun ein alter weißer Mann, und die Generation Greta kann das Vorbildsein schon selbst. "Kinder an die Macht!“, sang Grönemeyer und ging, wie ich, der Fantasie von den guten Kindern auf den Leim.

Jagoda Marinić schreibt in ihrer Kolumne über in die Welt, wie sie ihr gefällt – oder auch nicht gefällt. Sie ist........

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