Es muss etwas passieren, darin sind sich Lehrkräfte, Bildungs­politik und Fachleute einig. Das deutsche Bildungs­system fährt gerade mit Höchst­geschwindigkeit gegen die Wand. Ein Viertel der Schülerinnen und Schüler kann am Ende der Grundschul­zeit nicht richtig lesen, in der aktuellen Pisa-Studie schneiden die deutschen Nachwuchs­hoffnungen auch im Rechnen so schlecht ab wie noch nie.

Nun soll es also ein verpflichtendes Vorschuljahr richten. Sachsens Minister­präsident Michael Kretschmer etwa sagte der „Leipziger Volkszeitung“: „Wir brauchen ein verbindliches und verpflichtendes Vorschuljahr für alle Kinder.“ Das sei „nicht nur für Kinder mit Migrations­geschichte entscheidend“. Alle Kinder sollten künftig das letzte Jahr vor der Schule im Kinder­garten verbringen, damit hier Grundlagen für die schulische Bildung gelegt werden.“

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Was den Vorschlag etwas schräg wirken lässt: Sachsen ist eines der wenigen Bundes­länder, in denen das letzte Kita-Jahr noch nicht beitragsfrei ist. Dennoch ist die Betreuungs­­quote mit 97 Prozent sehr hoch – und die Probleme in den ersten Schulklassen gehen weit, weit über die wenigen Kita-Verweigerer hinaus.

Die Grundschulen schafften den Bildungs­auftrag nicht mehr allein, sagt Kretschmer. Dieser Satz ist ein Parade­beispiel dafür, was in der Debatte gerade komplett falsch läuft. Ja, natürlich sind die Grundschulen überfordert. Ein Modell, das darauf ausgerichtet ist, dass 20 Kinder mit ungefähr gleichen Start­voraussetzungen und gleicher Bereitschaft zu Bildung in vier bis sechs Jahren von einer Universal­lehrkraft und einigen Fach­kolleginnen die Grundlagen für den weiteren Bildungsweg vermittelt bekommen, muss in der heutigen Zeit Total­bankrott anmelden.

Grundschulen müssen bei immer mehr Kindern genauer hinschauen, maßgeschneidert unterrichten, kleinere Gruppen bilden. Die sperrigen Begriffe Integration, Inklusion, Lernschwächen und Long Covid bekommen Namen und Gesichter in jeder Klasse dieser Republik. Klassen­lehrerinnen und ‑lehrer sind dauer­überfordert. Es braucht von allem mehr: mehr Lehrerinnen und Lehrer, mehr Schul­sozialarbeiterinnen und ‑arbeiter, mehr digitale Hilfen, mehr Ideen, mehr Orientierung des Unterrichts an der realen Welt.

No Child Left Behind“ – zu Deutsch so viel wie „Kein Kind wird zurück­gelassen“ – so hieß vor gut 20 Jahren ein an Budget­zwängen gescheitertes Schul­reform­programm in den USA. Das hochtrabende Versprechen war damals für das Ungleichheits­land USA schon zynisch. In Deutschland dachte man lange, solch ein Versprechen würde selbstverständlich eingelöst. Aber diese Zeiten sind vorbei.

Die jüngste Pisa-Untersuchung war ein Schock. Das deckt sich mit dem, was die Deutschen über das Schulsystem denken. Die Lehrkräfte trifft ihrer Ansicht nach aber keine Schuld. Die Bürgerinnen und Bürger haben auch konkrete Vorstellungen, wie eine Reform aussehen sollte.

In dieser Lage ein verpflichtendes Vorschuljahr einzuführen lenkt durchsichtig von den Problemen des unterfinanzierten Systems Grundschule ab. Der Vorschlag verlagert die Verantwortung weg von der Politik, hin zu den ebenfalls komplett unterbesetzten und unterfinanzierten Kitas – und zu den Eltern.

Die Berliner Bildungs­senatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) will Eltern sogar ans Portemonnaie, wenn sie Kinder mit Sprach­schwierigkeiten nicht in die Kita schicken: „In der letzten Instanz werden wir auch die Maßnahme der Bußgelder nicht scheuen, weil es darum geht, Kindern von Anfang an die besten Möglichkeiten zur Verfügung zu stellen“, sagte sie.

Für die „besten Möglichkeiten“ aber müssen sie und ihre Kolleginnen und Kollegen erst einmal die Voraussetzungen schaffen, bevor populistisch mit Zwang und Strafe gedroht wird. Dazu gehören verpflichtende Sprachstands­erhebungen für alle Kinder im Vorschulalter und eine darauf abgestimmte Förderung – in der Kita und in der Schule. Warum gibt es eigentlich kein Sonder­vermögen frühkindliche Bildung. Damit der alte, abgenutzte Satz wirklich irgendwann mal gilt: Kein Kind wird zurückgelassen.

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23.03.2024

Es muss etwas passieren, darin sind sich Lehrkräfte, Bildungs­politik und Fachleute einig. Das deutsche Bildungs­system fährt gerade mit Höchst­geschwindigkeit gegen die Wand. Ein Viertel der Schülerinnen und Schüler kann am Ende der Grundschul­zeit nicht richtig lesen, in der aktuellen Pisa-Studie schneiden die deutschen Nachwuchs­hoffnungen auch im Rechnen so schlecht ab wie noch nie.

Nun soll es also ein verpflichtendes Vorschuljahr richten. Sachsens Minister­präsident Michael Kretschmer etwa sagte der „Leipziger Volkszeitung“: „Wir brauchen ein verbindliches und verpflichtendes Vorschuljahr für alle Kinder.“ Das sei „nicht nur für Kinder mit Migrations­geschichte entscheidend“. Alle Kinder sollten künftig das letzte Jahr vor der Schule im Kinder­garten verbringen, damit hier Grundlagen für die schulische Bildung gelegt werden.“

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