Stand: 02.05.2024, 15:43 Uhr

Von: Richard Meng

Kommentare Drucken Teilen

Individualtität löst oft Gemeinsamkeit ab. Viele wollen in Ruhe gelassen werden von den Anderen. Wie lässt sich beides besser ausbalancieren?

In Berlin gibt es einen engagierten Schulleiter, der viel bewegt. Das Umfeld ist nicht leicht, die kulturellen und materiellen Milieuunterschiede sind in Städten ja besonders brisant. Es ist einiges zu überbrücken. Wie er das erreicht? Seine Antwort klingt einfach und ist in dieser Klarheit ungewöhnlich: Zugehörigkeit schaffen.

Die Schule ist nach einer Frau benannt, die mit Vornamen Johanna hieß. Zugehörigkeit bedeutet da: Alle sind sie jetzt Johannas. Lernende, Lehrende, Eltern. Das Wort Johanna steht fürs Verbindende, es wird zum gemeinsamen Namen. Und so, wie die Schulgemeinschaft dabei mitspielt, ist es mehr als ein intelligenter kommunikativer Trick. Es wird werblich begleitet, von T-Shirts bis zum Online-Auftritt der Schule. Aber diese Gemeinschaft gibt es nun auch real.

Es macht Sinn, den Gedanken des Schulleiters auf andere Bereiche zu übertragen – zumal eine Jugendstudie diesen Kitt vermisst hat. Zugehörigkeitsgefühle werden allerorten schwächer, Pessimismus wächst, Rechte profitieren. Gemeinsamkeit wird abgelöst durch Individualität, in Ruhe gelassen von den Anderen. Wenn die Beobachtung stimmt, dass inzwischen sogar die Neugierde auf alle angehende Tagesnachrichten schwindet, lässt sich Zugehörigkeit nicht mal mehr über Informationshunger erreichen.

Gegen diesen düsteren Trend steht die massive, eher noch wachsende Identifikation mit dem lokalen Erleben, zumal im Sport und speziell Fußball. Interesse gibt es da aber eher nur am eigenen Verein, mit dem eigenen Verband oder gar einer eigenen Partei wird es schwierig. Die eigene Rolle ist wichtiger als die Gesamtheit. Zu besichtigen ist das bis hinauf zur Ampelkoalition.

Dort wollen alle zu allen Themen immer nochmal alles neu diskutieren, sobald sich die Chance dazu ergibt – und damit selbst wichtig sein. Das läuft in Berlin so, dass komplexe Kompromissverhandlungen zu allem und jedem geführt werden, bis ein Gesetz kabinettsreif ist. Sobald es ins Parlament kommt, fängt dort die Streiterei von vorne an, selbst wenn nichts Neues mehr herauskommt. Zugehörigkeit? Das Wir kommt erst lange nach der eigenen Rolle.

Es ist eine spannende Frage, ob da die Methode Johanna weiterhelfen könnte, die ja bedeutet: vor allem oben (Schulleitung) stets vom Gemeinsamen her denken und verkörpern, dass nur dies alle voran bringt. Es klingt fast wie eine Idee aus einer anderen Welt. Sie fällt in der Politik deshalb doppelt schwer, weil dort die Interessen auseinander gehen. Und doch: Wer sein Johanna-Erlebnis nicht hinbekommt, wird ein Ende mit Schrecken erleben. Oder es, noch vor der nächsten Wahl, voller Angst sogar selbst herbeiführen.

So lange Menschen überhaupt noch gemeinsam feiern oder leiden, lässt sich die Kraft der Zugehörigkeitsgefühle nicht für tot erklären. Dein Land, deine Stadt: Spätestens von der Ferne her betrachtet, im Urlaub etwa, gibt es selbst da durchaus noch gefühlte Zugehörigkeit. Wo kommen Sie her? Es ist da die besonders bauernschlaue Frage nach dem Heimatort, die Türen öffnet, sobald sich Menschen weit weg begegnen. Dann stellen sie Zugehörigkeiten heraus, die sie zu Hause kaum mehr so deutlich spüren.

Sind also doch alle im Innersten Johannas? Es müssen nicht T-Shirts mit Aufdruck sein. Es käme darauf an, häufiger sich selbst als Teil eines Ganzen zu sehen. Als Johanna Stadt, Johanna Land. Johanna Ampel also? Zugehörigkeit zu zeigen wäre speziell da mal eine neue Idee. Wenn auch eine vermutlich zu späte.

Richard Meng ist Vorsitzender des Kuratoriums der Karl-Gerold-Stiftung und Chefredakteur der Zeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte.

QOSHE - Das Wir und das Ich - Richard Meng
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Das Wir und das Ich

24 0
02.05.2024

Stand: 02.05.2024, 15:43 Uhr

Von: Richard Meng

Kommentare Drucken Teilen

Individualtität löst oft Gemeinsamkeit ab. Viele wollen in Ruhe gelassen werden von den Anderen. Wie lässt sich beides besser ausbalancieren?

In Berlin gibt es einen engagierten Schulleiter, der viel bewegt. Das Umfeld ist nicht leicht, die kulturellen und materiellen Milieuunterschiede sind in Städten ja besonders brisant. Es ist einiges zu überbrücken. Wie er das erreicht? Seine Antwort klingt einfach und ist in dieser Klarheit ungewöhnlich: Zugehörigkeit schaffen.

Die Schule ist nach einer Frau benannt, die mit Vornamen Johanna hieß. Zugehörigkeit bedeutet da: Alle sind sie jetzt Johannas. Lernende, Lehrende, Eltern. Das Wort Johanna steht fürs Verbindende, es wird zum gemeinsamen Namen. Und so, wie die Schulgemeinschaft dabei mitspielt, ist es mehr als ein intelligenter kommunikativer Trick. Es wird werblich begleitet,........

© Frankfurter Rundschau


Get it on Google Play