Stand: 09.04.2024, 20:26 Uhr

Von: Harry Nutt

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Die Beach Boys haben schon vor langem ein Lied geschrieben für all jene, die sich über aktuelle Debatten wundern - nicht nur über Gaza.

In der Blase meines sozialen Netzwerkes fragte kürzlich eine Freundin nach Songtiteln, in denen es mehr oder minder um Zeiterfahrungen geht. Sie sei zu einer Veranstaltung eingeladen und dürfe dort eine Playlist vorstellen.

Kaum war der Post abgesetzt, prasselten umgehend von allen Seiten Vorschläge auf sie nieder. Bob Dylan wurde mehrfach genannt, aber auch „Time After Time“ von Cyndi Lauper und „Closing Time“ von Tom Waits. Ich spendierte einen Titel von den Beach Boys: „I Just Wasn’t Made For These Times“. Er gehört zu Brian Wilsons genialen Früh-Kompositionen des Albums „Pet Sounds“ von 1966. Die melancholische Einsicht, für diese verstörende Gegenwart nicht gemacht zu sein, passt gerade wieder ganz gut.

Ein paar Accounts weiter entspann sich eine Diskussion über „Cowboy Carter“, das neue Album von Beyoncé. Begeisterung und Nichtgefallen, ist das überhaupt Country? Und ist Dua Lipa stimmlich nicht die viel bessere Beyoncé?

Besonders amüsant war eine Debatte zum Cover des Albums, genaugenommen über das Pferd, auf dem die Königin des Pop da thront. Sie wolle jetzt niemanden mit Pferdemädchen-Vorträgen zu Sattel- und Zaumzeug quälen, schickte eine Chat-Teilnehmerin voraus, „aber dass das Pferd hinten trabt und vorn galoppiert“, verwundere dann doch. War etwa eine billige KI am Werk? Was ist da los, Beyoncé?

Um Antworten waren weitere Teilnehmer nicht verlegen. Vielleicht handele es sich um ein durchtriebenes Spiel mit den Herausforderungen der Zeit? Ähnliche Debatten, die ich für den Moment als willkommene Ablenkung von gerade überall tobenden Weltanschauungsbürgerkriegen goutiere, hatte es ein paar Medientüren weiter bereits zu Taylor Swift gegeben.

Aber für immer frei nehmen von den Übeln der Welt geht auch nicht. Was es mit den auch hierzulande unversöhnlich geführten Debatten, insbesondere zu Gaza, auf sich hat, führt der Konstanzer Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke in der Zeitschrift Merkur (Aprilheft) aus.

Unter dem Stichwort „Gaza Moment“ beschreibt er, wie sich durch den Krieg in Nahost am Schicksal der Palästinenserinnen und Palästinenser eine Allianz bilden konnte, „in der sich alle Bewegungen sammeln, die sich gegen den Westen und die bisher vom Westen dominierte Weltordnung richten“.

Man könne darin, postkolonial formuliert, eine Appropriation der Leidenserfahrung sehen. „In einer merkwürdigen Kaskade der Stellvertretungen versetzen sich sogar diejenigen, die das Geschehen aus sicheren Abstand verfolgen, wechselseitig unter Bekenntniszwang.“ Schlimm, findet Koschorke. So werde die Fähigkeit eingebüßt, „von außen deeskalierend auf die verfahrene Situation einzuwirken“.

Der „Gaza Moment“ markiert die Verschiebung einer geopolitischen Machtbalance. Wie im Kalten Krieg manifestiere sich eine neuerliche Zweiteilung der Welt. Es sei zu einer „global divide“ von Nord und Süd gekommen, in der insbesondere die Juden auf die Verliererseite der Opferkonkurrenz geraten seien. Der Antisemitismus, der einmal der Inbegriff von rassistischer Diskriminierung gewesen sei, so Koschorke, ist in dem postkolonialen Bild, in dem Juden als „weiße“ Machthaber betrachtet werden, nicht unterzubringen.

Nach der Lektüre des kurzen Essays habe ich „I Just Wasn’t Made For These Times“ erneut abgespielt und noch einmal ganz anders gehört.

Harry Nutt ist Autor.

QOSHE - Für die Gegenwart nicht gemacht - Harry Nutt
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Für die Gegenwart nicht gemacht

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09.04.2024

Stand: 09.04.2024, 20:26 Uhr

Von: Harry Nutt

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Die Beach Boys haben schon vor langem ein Lied geschrieben für all jene, die sich über aktuelle Debatten wundern - nicht nur über Gaza.

In der Blase meines sozialen Netzwerkes fragte kürzlich eine Freundin nach Songtiteln, in denen es mehr oder minder um Zeiterfahrungen geht. Sie sei zu einer Veranstaltung eingeladen und dürfe dort eine Playlist vorstellen.

Kaum war der Post abgesetzt, prasselten umgehend von allen Seiten Vorschläge auf sie nieder. Bob Dylan wurde mehrfach genannt, aber auch „Time After Time“ von Cyndi Lauper und „Closing Time“ von Tom Waits. Ich spendierte einen Titel von den Beach Boys: „I Just Wasn’t Made For These Times“. Er gehört zu Brian Wilsons genialen Früh-Kompositionen des Albums „Pet Sounds“ von 1966. Die melancholische Einsicht,........

© Frankfurter Rundschau


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