Diese Woche begann am Landgericht Chemnitz ein Prozess, dessen Anlass mehr als fünf Jahre zurückliegt. Damals hatten auf dem Stadtfest zwei Asylbewerber im Streit einen Chemnitzer getötet. Einer wurde dafür zu neuneinhalb Jahren Haft verurteilt, der andere ist nach wie vor flüchtig. Für weltweites Aufsehen aber sorgte auch, was in den Tagen danach passierte. Die AfD beutete das Verbrechen für ihre Zwecke aus und rief zum „Schweigemarsch“ nach Chemnitz. Zugleich mobilisierten Rechtsextreme, Hooligans und Neonazis bundesweit zur Teilnahme. So standen dann die AfD-Vorsitzenden von Brandenburg, Hessen, Sachsen und Thüringen in der ersten Reihe, während hinter ihnen eine enthemmte Meute mit obszönen und verfassungsfeindlichen Gesten den Platz in der Stadt für sich beanspruchte und damit auch Teilnehmer der Demonstration „Herz statt Hetze“, die gleichzeitig stattfand, einschüchterte.

In jenen Tagen in Chemnitz wurde der Schulterschluss zwischen AfD und gewaltbereiten Rechtsextremen offensichtlich. Eine der Folgen verlas der Staatsanwalt am Montag zum Prozessauftakt: Nach Ende beider Veranstaltungen zogen mindestens 30 Teilnehmer des „Schweigemarschs“ auf der Suche nach Gegendemonstranten durch die Stadt. Wo immer sie welche fanden, oder auch nur solche, die sie für „Antifas“, „Linke“ oder „Zecken“ hielten, griffen sie diese an und verprügelten sie. Der politische Streit darüber, ob dies eine Hetzjagd war, erfasste auch die Bundesregierung, woraufhin Hans-Georg Maaßen, damals Präsident des Bundesverfassungsschutzes, sein Amt verlor. Das alles jedoch übertönte die eigentliche Aufarbeitung, nämlich Strafverfolgung und damit Genugtuung für die Opfer.

QOSHE - Armutszeugnis für den Rechtsstaat - Stefan Locke
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Armutszeugnis für den Rechtsstaat

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17.12.2023

Diese Woche begann am Landgericht Chemnitz ein Prozess, dessen Anlass mehr als fünf Jahre zurückliegt. Damals hatten auf dem Stadtfest zwei Asylbewerber im Streit einen Chemnitzer getötet. Einer wurde dafür zu neuneinhalb Jahren Haft verurteilt, der andere ist nach wie vor flüchtig. Für weltweites Aufsehen aber sorgte auch, was in den Tagen danach passierte. Die AfD beutete das Verbrechen für ihre Zwecke aus und........

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