Weihnachten, so hört man jetzt wieder überall, sei eine gute Gelegenheit, um über das eine oder das andere zu sprechen. Über Versöhnung zum Beispiel oder über Gesundheitsvorsorge. Die Weihnachtspredigten sind geschrieben, die Fernsehwerbespots mit den lachenden Familien und dem glitzernden Fensterschmuck sind gesendet, der Bundespräsident hat seinen Teleprompter bereitstellen lassen – aber was heißt das eigentlich, was setzt das voraus: „zu sprechen“?

Das geht aus von einer Gesellschaft der Mitteilsamen. Einer kommunikativen Gemeinschaft, in der immer alle ohne Weiteres miteinander ins Gespräch kommen. Kommen wollen. So tief sind jene in die Jahre gekommenen bundesrepublikanischen Theorien vom strukturbewahrenden Austausch der Argumente in unser kollektives Unbewusstes eingesunken, so selbstverständlich setzt jedes Unternehmen inzwischen ein kommunikatives Verhalten seiner Mitarbeiterschaft als natürliche Eigenschaft voraus, dass wir uns gar nicht mehr vorstellen können, was es heißt, schweigsam zu sein. Was es bedeuten könnte, nicht über die Fähigkeit zu verfügen, seinen Gedanken unbeschwert Ausdruck zu verleihen. Schnell läuft der, der in einer Gruppe nicht spricht, Gefahr, als verhalten oder schüchtern zu gelten.

Mitleidvolle Seitenblicke fallen auf jeden verschlossenen Mund. Weh dem, der heute nichts zu sagen, nichts zu meinen hat. Dabei galten die Schweigsamen einmal als besonders begehrenswert. Nicht nur neuplatonische Philosophen in der Spätantike, sondern auch erfolgreiche Westernregisseure in der Nachkriegszeit konnten davon ausgehen, dass dem einsilbig Verschlossenen in der breiteren Öffentlichkeit eine besondere Anziehung zugeschrieben wurde. Wo ist das hin? Die Ansicht, dass ein schweigsamer Mensch nicht einfach „unkommunikativ“ ist, sondern geheimnisvoll sein könnte? Seine Stille sogar als Protest gegen die manische Mitteilungssucht unserer Zeit versteht? Warum nehmen wir überhaupt an, dass alle jemanden zum Reden haben? Oder braucht es zum Sprechen inzwischen keine Zuhörer mehr?

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Weihnachten ist eine gute Gelegenheit, um über Einsamkeit zu sprechen – vielleicht. Aber noch eine bessere Übung wäre es womöglich, sich vorzustellen, wie es wäre, selbst allein zu sein. Niemanden zu haben, dem man sich mitteilen kann. Oder nicht will. Vielleicht gibt es ja doch noch ein paar wenige, die ein Geheimnis hüten. Etwas, von dem sie nichts erzählen wollen. Etwas, das sie mit sich ausmachen. Und deshalb eben schweigen. Warum das pathologisieren? Vielleicht leben die, die Stille bewahren, in Wahrheit viel glücklicher als jene, die immer alles ausplaudern. Vielleicht haben die, die ihren Mund geschlossen halten, mehr Hallraum im Inneren. Denn wer weiß schon, ob sie sich gerade nicht an etwas Wunderschönes erinnern?

QOSHE - Wer schweigt, hat mehr zu sagen - Simon Strauss
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Wer schweigt, hat mehr zu sagen

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21.12.2023

Weihnachten, so hört man jetzt wieder überall, sei eine gute Gelegenheit, um über das eine oder das andere zu sprechen. Über Versöhnung zum Beispiel oder über Gesundheitsvorsorge. Die Weihnachtspredigten sind geschrieben, die Fernsehwerbespots mit den lachenden Familien und dem glitzernden Fensterschmuck sind gesendet, der Bundespräsident hat seinen Teleprompter bereitstellen lassen – aber was heißt das eigentlich, was setzt das voraus: „zu sprechen“?

Das geht aus von einer Gesellschaft der Mitteilsamen. Einer kommunikativen Gemeinschaft, in der immer alle ohne Weiteres miteinander ins Gespräch kommen. Kommen wollen. So tief sind jene in die Jahre gekommenen bundesrepublikanischen Theorien vom strukturbewahrenden Austausch der Argumente in unser........

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