Plötzlich ist Prenzlau Stadtgespräch. Und plötzlich wird über einen offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz, der vor wenigen Tagen auf der Website der uckermärkischen Kreisverwaltung veröffentlicht wurde und der ihn zu einer „Sprache der Diplomatie und des Friedens“ aufruft, überregional berichtet. Nicht in erster Linie wegen des Inhalts, sondern wegen der Unterzeichner. „Rechtsextreme und Demokraten schreiben gemeinsamen Brief“, heißt es auf tagesschau.de und zdf.de. „Brandmauer in der Uckermark eingerissen?“, fragt der Berliner „Tagesspiegel“.

Was die Aufregung verursacht, ist der Umstand, dass den Brief neben Vertretern der CDU, FDP, SPD, Freien Wähler und Linken auch der unter Rechtsextremismus-Verdacht stehende AfD-Bundestagsabgeordnete Hannes Gnauck und ein Vertreter der in „Die Heimat“ umbenannten NPD unterzeichnet haben. Wahrlich keine angenehme Gesellschaft. Wahrlich kein Ausweis besonderer politstrategischer Klugheit seitens der anderen Parteien. Aber dass sich nun alle vor allem darüber aufregen, welche Namen da neben welchen stehen, folgt den inzwischen eingeübten medialen Mechanismen der Kontaktschuldsuche.

Über den Inhalt des Briefes selbst wird nur nebenbei berichtet, so als wäre das gar keine wichtige Nachricht mehr. Ist es aber. Denn was die übergroße kommunale Koalition da fordert, zeugt von einer in Ostdeutschland immer dominanter werdenden Abneigung gegen die von der Bundesregierung geübte militärische Unterstützung der ­Ukraine. Auf diese Abneigung trifft im Moment vielerorts, wer im Osten politische Gespräche führt. Und zwar milieuübergreifend: vom Handwerksmeister bis zum Lokaljournalisten, vom Tierarzt bis zum renommierten Schriftsteller.

So hat Ingo Schulze, seines Zeichens Präsident der Darmstädter Akademie, gerade der Zeitung „nd“ ein Interview gegeben, in dem er seine Dankbarkeit für Rolf Mützenichs „Einfrieren“-Rede ausdrückt und die für ihn keinesfalls rhetorische Frage stellt: „Was soll denn falsch daran sein, auch immer auf Diplomatie zu setzen? Wenn ich selbst oder meine Kinder an die Front müssten, wäre ich heilfroh, wenn jemand sagen würde, wir versuchen eine Lösung auch auf anderem Wege.“ Klingt das so anders als das, was die uckermärkischen Kommunalpolitiker schreiben: „Deutschland sollte nichts unversucht lassen, um diplomatische Lösungen für ein Ende des Krieges zu initiieren und das friedliche Miteinander der Völker zu fördern. Krieg kennt nur Verlierer. Statt der Dominanz des Militärs brauchen wir die Sprache der Diplomatie und des Friedens“? Nein. Das heißt nicht, dass man über die Forderung nicht streiten kann. Aber so zu tun, als habe die pseudopazifistische Haltung des überparteilich unterschriebenen Briefes nicht einen breiten Rückhalt in der ostdeutschen Bevölkerung, ist scheinheilig.

Erst unlängst hat sich der parteilose Bürgermeister der Stadt Prenzlau gegenüber der F.A.Z. in noch drastischerer Weise zu seiner Furcht vor einer militärischen Konfrontation mit Russland geäußert. Diese Furcht vor „den Russen“ ist es, die Menschen verschiedener Generationen und politischer Herkünfte im Osten Deutschlands umtreibt. Die mediale Rezeption dieser Gemütslage sollte nicht die Fehler früherer Skandalzeiten, etwa während der Flüchtlingskrise oder der Corona-Pandemie, wiederholen, indem sie sich damit zufriedengibt, jede Abweichung von der als humanitäre Norm verstandenen Richtung als AfD-Abklatsch zu deklamieren. Viel eher muss man nüchtern feststellen, dass bei der militärischen Unterstützung der Ukraine zwischen West und Ost eine Meinungskluft besteht.

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Es ist nicht die Aufgabe von Journalismus, diese Kluft zu schließen. Aber es sollte in seinem Interesse liegen, zu fragen, woher diese kommt, was sie für die politische Zukunft bedeutet. Was es zum Beispiel für den aufziehenden brandenburgischen Wahlkampf heißen könnte, dass ein AfD-Mann einen Brief unterzeichnet, der den Überfall Russlands auf die Ukraine „völkerrechtswidrig“ nennt und „auf das Schärfste verurteilt“, sich „solidarisch mit dem ukrainischen Volk“ zeigt und „fest in einem vereinten Europa verankert“ sieht, die Waffenhilfe für die Ukraine aber ablehnt wie Vertreter der anderen Parteien auch. Es geht darum, nicht nur auf die Unterzeichner zu schauen, sondern die Zeichen eines solchen offenen Briefs zu lesen.

QOSHE - Meinungskluft zwischen Ost und West - Simon Strauss
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Meinungskluft zwischen Ost und West

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11.04.2024

Plötzlich ist Prenzlau Stadtgespräch. Und plötzlich wird über einen offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz, der vor wenigen Tagen auf der Website der uckermärkischen Kreisverwaltung veröffentlicht wurde und der ihn zu einer „Sprache der Diplomatie und des Friedens“ aufruft, überregional berichtet. Nicht in erster Linie wegen des Inhalts, sondern wegen der Unterzeichner. „Rechtsextreme und Demokraten schreiben gemeinsamen Brief“, heißt es auf tagesschau.de und zdf.de. „Brandmauer in der Uckermark eingerissen?“, fragt der Berliner „Tagesspiegel“.

Was die Aufregung verursacht, ist der Umstand, dass den Brief neben Vertretern der CDU, FDP, SPD, Freien Wähler und Linken auch der unter Rechtsextremismus-Verdacht stehende AfD-Bundestagsabgeordnete Hannes Gnauck und ein Vertreter der in „Die Heimat“ umbenannten NPD unterzeichnet haben. Wahrlich keine angenehme Gesellschaft. Wahrlich kein Ausweis besonderer politstrategischer Klugheit seitens der anderen Parteien. Aber dass sich nun alle vor allem darüber aufregen, welche Namen da neben welchen stehen, folgt den inzwischen eingeübten medialen Mechanismen der........

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