In der drängenden Frage, wie unsere Gesellschaft als Ganzes vor der Spaltung bewahrt werden kann, lohnt sich mitunter auch der Blick auf unsere Gemeinschaften, ganz praktisch, an Ort und Stelle. Zum Beispiel in Prenzlau. Im Bürgerhaus mit der Adresse Georg-Dreke-Ring 58a. Hier, mitten im sozialen Brennpunkt der nordbrandenburgischen Kleinstadt, sind seit 2020 verschiedene Träger ansässig, die sich um die Belange jener kümmern, die meist allein im Dunkeln stehen.

Junge Frauen zum Beispiel, die ungewollt schwanger geworden sind und nun vor der Herausforderung verzweifeln. Der in anonymen Beratungen festgestellte Bedarf beginnt hier oft bei der Frage: Wie überhaupt zur Entbindungsstation kommen? Denn in Prenzlau gibt es keine solche Station, und wer kein eigenes Auto besitzt oder jemanden hat, der eins fährt, steht vor einem Problem.

Darum kümmert sich dann die hiesige Schwangerschaftsberatung, aber auch um die Beantragung von finanziellen Hilfen oder um das Ausstellen jener Bescheinigung, die eine Frau für einen Schwangerschaftsabbruch braucht. Von hier aus wird allerdings auch das neue Leben willkommen geheißen, wird ein sogenannter „Baby Begrüßungsdienst“ organisiert, der nach einer Entbindung zur Mutter nach Hause kommt und sie in den ersten Wochen unterstützt.

Das sind Dienste, die in Weihnachtsansprachen des Bundespräsidenten nur selten Erwähnung finden – und die doch von großer Bedeutung sind. Genau wie jener Bollerwagen, den eine Mitarbeiterin jeden Tag auf den Spielplatz um die Ecke schiebt und der mit Buddelzeug und Bällen gefüllt ist, damit die Kinder aus dem Viertel nicht schon beim Spielen erfahren, was Stratifikation bedeutet. Genau darum geht es auch an diesem Abend im Erdgeschoss des Bürgerhauses.

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Da veranstalten verschiedene Träger zum ersten Mal ein gemeinsames, unentgeltliches Abendessen für die Bewohner des Viertels – „Prenzlau is(s)t“ lautet der hintersinnige Titel, den der Bürgermeister in seiner Begrüßung auch gleich aufnimmt. Es gehe darum, „das Miteinander zu pflegen und zu überlegen, was man ist und was man sein möchte“. Keine ganz triviale Aufgabenstellung, vor die sich die ungefähr vierzig Gäste gestellt sehen.

Es sind vor allem Familien aus der Nachbarschaft, auch ein paar alleinstehende ältere Damen und Jugendliche. Zusammen wird gekocht , an der Wand hängen Rezepte für einen Yum-Yum-Salat und eine vegane Lauchsuppe. Das ist gut gemeint, zielt aber offensichtlich an den Essgewohnheiten der meisten Anwesenden vorbei.

Eine Besucherin ruft aufgekratzt durch die Küche: „Ich bin Secondhand-Vegetarierin. Kuh frisst Gras, ich esse Kuh.“ Zwei junge Frauen berichten über das, was ihnen in Prenzlau fehlt. Das sind vor allem Freizeitmöglichkeiten. Es gibt in der Stadt keine Bar, keine Disco. Also trifft man sich auf dem Parkplatz hinter McDonalds, klappt den Kofferraum auf, trinkt Bier. Umso einleuchtender, dass das Bürgerhaus an diesem Abend gut besucht ist.

Es sei entscheidend, heißt es bei Ferdinand Tönnies, dass wir auch diejenige Zusammenhalt stiftende Kraft „gebührend würdigen“, welche der Vernunft vorausgeht. Er spielte damit auf die soziale Bindungskraft der Religion an und meinte unter anderem auch das gemeinsame Abendmahl. So eines wie das in Prenzlau.

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Abendmahl im sozialen Brennpunkt

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04.03.2024

In der drängenden Frage, wie unsere Gesellschaft als Ganzes vor der Spaltung bewahrt werden kann, lohnt sich mitunter auch der Blick auf unsere Gemeinschaften, ganz praktisch, an Ort und Stelle. Zum Beispiel in Prenzlau. Im Bürgerhaus mit der Adresse Georg-Dreke-Ring 58a. Hier, mitten im sozialen Brennpunkt der nordbrandenburgischen Kleinstadt, sind seit 2020 verschiedene Träger ansässig, die sich um die Belange jener kümmern, die meist allein im Dunkeln stehen.

Junge Frauen zum Beispiel, die ungewollt schwanger geworden sind und nun vor der Herausforderung verzweifeln. Der in anonymen Beratungen festgestellte Bedarf beginnt hier oft bei der Frage: Wie überhaupt zur Entbindungsstation kommen? Denn in Prenzlau gibt es keine solche Station, und wer kein eigenes Auto besitzt oder jemanden hat, der eins fährt, steht vor einem Problem.

Darum kümmert sich dann die........

© Frankfurter Allgemeine


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