Im Grunde ist es höchst anmaßend, was wir Menschen permanent tun: Wir beobachten das Verhalten anderer und schließen daraus, was sie denken. Um die erkenntnistheoretische Berechtigung dieser Praxis scheren wir uns dabei wenig – das haben wir traditionell den Philosophen als „Problem des Fremdpsychischen“ überlassen. Und der Erfolg gibt uns meist Recht: Wer sich selbst einen Kaffee kocht, hegt praktisch immer auch den entsprechenden Wunsch. Wer winkt, will Aufmerksamkeit. Und wer sich einen Karton schüttelnd ans Ohr hält?

Selbst in so einem Fall sind wir um eine rationale Erklärung nicht verlegen. Das haben Psychologen der Johns Hopkins Universität demonstriert. Sie filmten Probanden dabei, wie sie die Anzahl oder Form von Gegenständen im Innern einer Box herauszufinden versuchten. Beobachter sollten die Videos deuten. Dreiviertel folgerten, dass es beim Schütteln des Kartons um Informationsbeschaffung ging und erschlossen sogar die verfolgte Frage. Dass wir beobachtend solche „epistemischen Handlungen“ deuten können, mithilfe derer Menschen an bestimmte Informationen gelangen wollen, sei bemerkenswert, so die Psychologen.

Umso mehr, so möchte man ergänzen, als darin ja eine überaus versöhnliche Botschaft steckt: Merkwürdige Handlungen als erstes auf die Neugier und den Wissensdurst der Akteure zu schieben, ist die schönere Variante als die ja ebenfalls existierende Alternative: einfach am Verstand der Schüttelnden zu zweifeln.

QOSHE - Unterstellte Neugier - Sibylle Anderl
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Unterstellte Neugier

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24.11.2023

Im Grunde ist es höchst anmaßend, was wir Menschen permanent tun: Wir beobachten das Verhalten anderer und schließen daraus, was sie denken. Um die erkenntnistheoretische Berechtigung dieser Praxis scheren wir uns dabei wenig – das haben wir traditionell den Philosophen als „Problem des Fremdpsychischen“ überlassen. Und der Erfolg gibt uns meist Recht: Wer........

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