Die Debatte über sexuellen Missbrauch in der Kirche begann vor mehr als zwanzig Jahren mit Fällen aus dem irischen Katholizismus. Was sich seither vollzieht, ist eines der größten PR-Desaster der Geschichte. In der katholischen Kirche geriet die Aufarbeitung in den Strudel ihrer internen theopolitischen Konflikte, und die Bistümer stellten sich aufgrund fehlender einheitlicher Standards fortwährend selbst die Beine. Im Ergebnis hat eine weltumspannende Institution große Teile ihres wichtigsten Kapitals vernichtet, des Vertrauens der Menschen.

Die evangelischen Bischöfe haben dieses Schauspiel zunächst fassungslos und später mit zunehmendem Zorn verfolgt, da der Vertrauensverlust erwiesenermaßen auch auf ihre Kirchen abfärbte. Wie sich nun her­ausstellt, haben die evangelischen Kirchen aber all die Jahre nicht genutzt, um ihren eigenen Umgang mit sexualisierter Gewalt zu professionalisieren. Schon beim Rücktritt der EKD-Ratsvorsitzenden Annette Kur­schus im November zeigte sich, dass die evangelische Kirche aus den Fehlern der katholischen Kirche nicht gelernt hat, sondern diese im entscheidenden Moment schlicht wiederholte.

Mit der Präsentation der großen Studie zur sexualisierten Gewalt wird es nun noch bitterer: Der forensische Psychiater, der 2018 für die MHG-Studie zur katholischen Kirche fast 40.000 Personalakten auswerten konnte, bekam für die am Donnerstag veröffentlichte ForuM-Studie zur evangelischen Kirche nur wenige Tausend Disziplinarakten, obwohl im Studiendesign vorab anderes vereinbart war. Die Folge ist, dass die 3,6 Millionen Euro teure Studie ein wesentliches Ziel nicht erreicht hat, nämlich quantitative Vergleiche zur katholischen Kirche sowie zu anderen gesellschaftlichen Bereichen zu liefern. Auf der Grundlage solcher Zahlen wird aber die öffentliche Debatte geführt.

Als Ursache dieses Versäumnisses hat die amtierende EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs ein „unglückliches Nichtkönnen“ identifiziert: Personalmangel in den Archiven. Es ist ein Treppenwitz, dass die evangelische Kirche, die sonst an ihrer eigenen Geschichte fast zu ersticken droht, ihr Waterloo nun ausgerechnet in den eigenen Archiven erlebt.

Gegen diesen Befund wird angeführt, dass es viel stärker auf die qualitativen als auf die quantitativen Ergebnisse der ForuM-Studie ankomme. Die meisten dieser „qualitativen“ Erkenntnisse über spezifisch evangelische Risikofaktoren kannte man mit etwas Kenntnis des Milieus und der Strukturen allerdings schon zuvor. Dennoch ist es gut, diese nun Schwarz auf Weiß zu haben.

Als wichtigen Risikofaktor nennen die Wissenschaftler die „Verantwortungsdiffusion und Verantwortungsdelegation“ in den unübersichtlichen Strukturen der evangelischen Kirchen. Deren ausgeprägter Föderalismus hat nicht nur viele Missbrauchsopfer zum Verzweifeln gebracht und den quantitativen Teil der ForuM-Studie beeinträchtigt. Auch Annette Kurschus verlor ihr Amt im Verantwortungsnirwana zwischen den föderalen Ebenen. In dieser Zone versandete zuvor bereits Wolfgang Hubers Kirchenreform. Die ForuM-Studie liefert nur einen weiteren Beleg dafür, dass die evangelische Kirche in ihren bisherigen Strukturen kaum handlungsfähig und ihre Veränderungsgeschwindigkeit völlig unzureichend ist.

Neben dem unübersichtlichen Föderalismus wird auch das progressive Selbstverständnis des Protestantismus als Risikofaktor genannt. Das Selbstbild der evangelischen Kirchen besagt, dass es in ihren eigenen Reihen im Kontrast zu anderen Bereichen der Gesellschaft besonders egalitär, partizipativ und menschlich zugeht. Dieses Klima erleichterte Missbrauchstätern nicht nur die Annäherung an ihre Opfer, es behinderte später auch die Aufarbeitung ihrer Taten. Denn wer ausschert aus der Verbrämung und Negierung von Machtstrukturen, wird im Protestantismus sanft, aber effektiv an den Rand gedrückt.

Auch dieser Aspekt lässt sich generalisieren. Die Sonne der Selbstgerechtigkeit hat in der evangelischen Kirche längst nicht nur den Blick auf die sexualisierte Gewalt in den eigenen Reihen getrübt. Das unangefochtene Selbstverständnis, auf der Seite des Guten und der Moral zu stehen, durchzieht auch die öffentlichen Stellungnahmen der evangelischen Kirche. Auf diesem geistigen Substrat reifte zum Beispiel die utopische Friedensethik, die mittlerweile an den Realitäten zerschellt ist.

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QOSHE - Kaum etwas gelernt - Reinhard Bingener
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Kaum etwas gelernt

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26.01.2024

Die Debatte über sexuellen Missbrauch in der Kirche begann vor mehr als zwanzig Jahren mit Fällen aus dem irischen Katholizismus. Was sich seither vollzieht, ist eines der größten PR-Desaster der Geschichte. In der katholischen Kirche geriet die Aufarbeitung in den Strudel ihrer internen theopolitischen Konflikte, und die Bistümer stellten sich aufgrund fehlender einheitlicher Standards fortwährend selbst die Beine. Im Ergebnis hat eine weltumspannende Institution große Teile ihres wichtigsten Kapitals vernichtet, des Vertrauens der Menschen.

Die evangelischen Bischöfe haben dieses Schauspiel zunächst fassungslos und später mit zunehmendem Zorn verfolgt, da der Vertrauensverlust erwiesenermaßen auch auf ihre Kirchen abfärbte. Wie sich nun her­ausstellt, haben die evangelischen Kirchen aber all die Jahre nicht genutzt, um ihren eigenen Umgang mit sexualisierter Gewalt zu professionalisieren. Schon beim Rücktritt der EKD-Ratsvorsitzenden Annette Kur­schus im November zeigte sich, dass die evangelische Kirche aus den Fehlern der katholischen Kirche nicht gelernt hat, sondern diese im entscheidenden Moment schlicht wiederholte.

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