Wie unpolitisch kann eine Veranstaltung sein, bei der – vermeintlich – Nationen gegeneinander in einen Wettstreit treten? Bei der die Ukrainerin Jamala nur zwei Jahre nach der Besetzung der Halbinsel Krim durch Wladimir Putins Russland mit einem Lied den Eurovision Song Contest (ESC) gewinnen konnte, in dem es um die Vertreibung der Krimtataren durch Josef Stalin im Jahr 1944 geht? Bei der eine transgeschlechtliche Frau und ein Mann mit Vollbart in Frauenkleidern auf der Bühne stehen? Sowohl der Sieg von Dana International 1997 für Israel als auch der von Conchita Wurst 2014 für Österreich wurden politisch verstanden, beide waren durchaus umstrittene Vertreter auch im jeweils eigenen Land und sorgten schon im Vorfeld für massive Proteste.

Es mutet ein wenig blauäugig an, dass die Europäische Rundfunkunion (EBU) so sehr auf dem „unpolitischen Charakter“ ihrer Veranstaltung beharrt. Auch dieses Jahr wieder wurde in Malmö bekanntgegeben, dass die Flaggen des eigenen Landes genauso erlaubt seien wie Regenbogenfahnen. Zugleich behalten sich die Organisatoren aber das Recht vor, palä­sti­nen­sische Flaggen und Symbole zu ent­fer­nen.

Als die isländische Band Hatari 2019 bei der Verkündung der Punkte beim ESC in Tel Aviv einen Schal mit der Aufschrift und der Flagge Palästinas zeigte, wurde die Gruppe ausgepfiffen, der isländische Sender RÚV später von der EBU zu einer Strafzahlung von 5000 Euro verurteilt. Als der Italiener Marco Mengoni im vergangenen Jahr mit einer Regenbogenfahne als Symbol der queeren Bewegung auf die Bühne der Liverpool-Arena kam, wurde er frenetisch gefeiert. Im EBU-Mitgliedsland Ägypten ist das ein Verbrechen gegen Religion und Gesellschaft, eine junge Frau, Sarah Hegazi, wurde 2017 dafür verhaftet und gefoltert, später brachte sie sich um.

Das Vorgehen der EBU beim ESC klingt nach zweierlei Maß. Und es spaltet seit je den Song Contest in zwei Lager. Auf der einen Seite steht der liberale Westen, der sich herausnimmt, darüber zu urteilen, was – auch politisch – richtig und was falsch ist, auf der anderen Seite befinden sich Länder wie Russland oder die Türkei. Das weltoffene Australien nimmt seit 2015 am ESC teil, Ungarn hat sich 2020 ohne eindeutige Begründung aus dem Wettbewerb verabschiedet. Angeblich, so heißt es, sei Viktor Orbáns Regierung zu homophob für diese Veranstaltung.

Die Idee zum ESC entstand in den Fünfzigerjahren. Er sollte nach dem verheerenden Krieg die europäischen Nationen wieder zusammenführen, zu einem friedlichen Wettbewerb, bei dem es nach dem Vorbild des Sanremo-Festivals um Musik gehen sollte. Doch schon bald gab es die ersten Kontroversen und auch Boykotte: etwa wegen Spanien, als es noch Franco-Diktatur war, wegen Zypern, das zwischen Griechenland und der Türkei geteilt wurde, und vor allem wegen Israel. Teilnahmeberechtigt bis heute sind alle Mitglieder der EBU, zu der auch Mittelmeerstaaten wie Marokko – es nahm 1980 einmal am ESC teil – sowie Staaten in Vorderasien wie Armenien und Aserbaidschan gehören.

Australien nimmt bei der EBU als assoziiertes Mitglied eine Sonderrolle ein. Mitglieder sind allerdings nicht die Regierungen, sondern freie und unabhängige Rundfunksender. Genau das ist der Hauptgrund, warum Russland und Belarus nicht mehr am ESC teilnehmen dürfen. Ihr Ausschluss war zwar eine direkte Folge des Ukrainekriegs, allerdings ging es der EBU vor allem darum, „die Werte öffentlich-rechtlicher Medien zu wahren“, wie die Union der Sender aus 56 Ländern im Februar 2022 schrieb. „Angesichts der Eskalation dieses Konflikts muss es unsere Priorität sein, sicherzustellen, dass alle Bürger weiterhin Zugang zu vertrauenswürdigen, unabhängigen Nachrichten und Informationen haben und dass Journalisten frei und sicher berichten können.“

Das aber gewährleisten Russland und Belarus nicht, Israel und sein öffentlich-rechtlicher Sender Kan schon. Damit begründet die EBU auch die Teilnahme Israels, nachdem im Nachgang zu den Massakern am 7. Oktober vergangenen Jahres durch Hamas-Terroristen und dem andauernden Krieg in Gaza ein Ausschluss Israels beim diesjährigen ESC in Malmö gefordert worden war und es auch Boykottaufrufe anderer Teilnehmer gegeben hatte.

Leidtragende bei alldem sind die Künstler, etwa die Tolmachevy Sisters, die für Russland 2014 an den Start gingen. Die erst 17 Jahre alten Zwillingsschwestern wurden kurz nach der Annexion der Krim durch Wladimir Putin an seiner Stelle vom Publikum in Kopenhagen ausgebuht. Der Mann mit Bart und im Kleid, Conchita Wurst, wurde für sein Auftreten am selben Ort bejubelt. 2016 kam es sogar zum großen Zweikampf zwischen Russland und der Ukraine. Nur der Russe Sergej Lasarew oder ­Jamala konnte am Ende noch Punkte für einen Sieg bekommen. Die Ukrainerin setzte sich durch, ihr Lied „1944“ wurde frenetisch gefeiert. Lasarew und sein unpolitisches „You Are the Only One“ wären bei einem Sieg wohl ausgebuht worden.

Allerdings bekam Lasarew aus allen Ländern Punkte, und auch Conchita Wurst, mit deren Sieg russische Politiker „das Ende Europas“ heraufbeschworen, erhielt immerhin fünf Punkte aus Russland. Das spricht dafür, dass es letztlich eben doch vor allem um Musik geht und um Werte, nach denen sich auch viele Menschen in autokratisch regierten Ländern sehnen, wovor Politiker wie Erdoğan oder Orbán offenbar Angst haben. Sonst würden sie eine ESC-Teilnahme zulassen.

„Wir sind nicht aufzuhalten“, sagte Conchita Wurst nach ihrem Sieg. Der ESC ist über die Jahre immer mehr zu einem Symbol der freien Welt geworden, der sich nach dem Vorbild Europas für Pluralismus und Toleranz, Gerechtigkeit und Nichtdiskriminierung einsetzt. Das ist politisch und wichtiger denn je in Zeiten, in denen immer mehr Autokraten in ihren Ländern genau diese Werte infrage stellen.

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Der ESC muss auch politisch sein

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07.05.2024

Wie unpolitisch kann eine Veranstaltung sein, bei der – vermeintlich – Nationen gegeneinander in einen Wettstreit treten? Bei der die Ukrainerin Jamala nur zwei Jahre nach der Besetzung der Halbinsel Krim durch Wladimir Putins Russland mit einem Lied den Eurovision Song Contest (ESC) gewinnen konnte, in dem es um die Vertreibung der Krimtataren durch Josef Stalin im Jahr 1944 geht? Bei der eine transgeschlechtliche Frau und ein Mann mit Vollbart in Frauenkleidern auf der Bühne stehen? Sowohl der Sieg von Dana International 1997 für Israel als auch der von Conchita Wurst 2014 für Österreich wurden politisch verstanden, beide waren durchaus umstrittene Vertreter auch im jeweils eigenen Land und sorgten schon im Vorfeld für massive Proteste.

Es mutet ein wenig blauäugig an, dass die Europäische Rundfunkunion (EBU) so sehr auf dem „unpolitischen Charakter“ ihrer Veranstaltung beharrt. Auch dieses Jahr wieder wurde in Malmö bekanntgegeben, dass die Flaggen des eigenen Landes genauso erlaubt seien wie Regenbogenfahnen. Zugleich behalten sich die Organisatoren aber das Recht vor, palä­sti­nen­sische Flaggen und Symbole zu ent­fer­nen.

Als die isländische Band Hatari 2019 bei der Verkündung der Punkte beim ESC in Tel Aviv einen Schal mit der Aufschrift und der Flagge Palästinas zeigte, wurde die Gruppe ausgepfiffen, der isländische Sender RÚV später von der EBU zu einer Strafzahlung von 5000 Euro verurteilt. Als der........

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