Im Europäischen Parlament herrscht keine strenge Fraktionsdisziplin, wie man sie aus den Parlamenten vieler Mitgliedstaaten kennt. Das liegt daran, dass die Europaabgeordneten keine Regierung stützen müssen. Ihr Abstimmungsverhalten fördert deshalb oft ein ungeschminktes Bild von der Stimmung in Europa zutage. So war es nun auch im Fall der Asylreform: Die politischen Gräben sind bei diesem Thema noch immer groß, zwischen den Mitgliedstaaten genauso wie in ihnen.

Das gilt insbesondere für Deutschland. Dass die Grünen gegen das Paket stimmten, zeigt wieder, dass die Basis der Partei die Regierungsverantwortung noch immer nicht verinnerlicht hat. So wie die Bundestagsfraktion bei der Bezahlkarte taktierte, so haben nun auch die Brüsseler Grünen gezeigt, dass sie letztlich nicht die Interessen deutscher oder europäischer Wähler vertreten, sondern die von Asylbewerbern.

In Deutschland ignorieren sie die Überlastung der Kommunen und die Überforderung der Gesellschaft, in der EU übersehen sie die Verwerfungen in vielen Ankunfts- und Zielstaaten sowie das Scheitern des Dublin-Systems. Das Argument, dass man Migration ohnehin nicht aufhalten könne, wird an den Landgrenzen von Polen, Finnland oder Griechenland widerlegt, und es ist weltfremd. Menschen sind schon immer gewandert, das ist richtig, aber wohin sie gehen, lässt sich sehr wohl beeinflussen.

Die Realitätsverweigerung der Grünen sollte vor allem der Union zu denken geben. Die (ungeregelte) Migration ist in Umfragen eine der Hauptsorgen der Bevölkerung. Bei keinem anderen Thema ist die Repräsentationslücke im nicht populistischen Spektrum so groß. Eine ohnehin noch vom Merkel-Erbe belastete CDU kann sie nicht schließen, wenn sie weiter auf die Grünen als Machtoption setzt. Eine bürgerliche Partei sollte sich da auch nicht vom moralischen Gestus der Grünen täuschen lassen. Dass sie bei den neuen Schnellverfahren, zu denen Asylbewerber an der Grenze festgehalten werden können, Ausnahmen für Familien mit Kindern erreichen wollten, hätte dazu geführt, dass viel mehr Frauen und Kinder auf die lebensgefährliche Reise nach Europa geschickt worden wären. Nur in der pro-asylisierten öffentlichen Debatte in Deutschland konnte das als humanitär gelten.

Auffällig, wenn auch nicht überraschend ist das Abstimmungsverhalten der polnischen Bürgerplattform. In der Migrationspolitik hat Tusk schon früher einen wesentlich härteren Kurs befürwortet als andere Teile der EVP. Trotzdem zeigt auch das wieder eine Verzerrung, wenn nicht Illusion der öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland. Tusk wurde bei seiner Rückkehr als europapolitischer Messias gefeiert, nun steht er auf dem Feld der Migration für dieselbe Politik wie seine Vorgänger von der PiS. Das könnte vor allem für den Teil der Asylreform noch zum Pro­blem werden, der eine Entlastung der Ersteinreiseländer vorsieht, entweder durch Umverteilung oder finanzielle Beiträge. Im Osten der EU hat man solche Beschlüsse schon früher einfach durch Nichtbefolgen unterlaufen.

Dass die Mehrheit bei einzelnen Teilen des umfangreichen Pakets knapp ausfiel, ist in demokratischen Systemen kein Makel, aber es zeigt doch, wie schwer ein Mittelkurs in der Asylpolitik in Europa durchzusetzen ist. Getragen wurde die Reform im Wesentlichen von Christdemokraten, Liberalen und Sozialdemokraten. Weiter links wie rechts läuft es weiterhin auf extremistische Positionen hinaus: alle Grenzen auf oder alle Grenzen zu. Das wird der Herausforderung auch in Zukunft nicht gerecht werden, denn beides würde die EU in ihrer heutigen Form nicht überleben.

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Deswegen kann diese Asylreform nur ein erster Schritt sein. Im Kern zielt sie darauf ab, weitgehend aussichtslose Bewerber schon an der Grenze aufzuhalten und schnell abzuschieben. Die Probleme dieses Ansatzes sind bekannt, das größte ist die Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitländern. Die Von-der-Leyen-Kommission gibt sich da mehr Mühe als ihre Vorgänger. Es fehlt aber das Engagement des Bundeskanzlers. Auch Macron müsste mehr tun, Frankreich gehört zu den großen Zielländern.

Sollte die Reform greifen, dann könnte rechnerisch wohl ein Viertel der Asylbewerber für die Schnellverfahren infrage kommen. Die Hoffnung ist, dass sich aus den betroffenen Ländern viele erst gar nicht mehr auf den Weg machen. Das wäre auch eine spürbare Entlastung der deutschen Kommunen, aber bei 350.000 Anträgen im Jahr 2023 noch keine grundsätzliche Kursänderung. Deutschland und andere westliche EU-Staaten haben sich in der Asylfrage übernommen. Vor allem die politischen Kosten sind zu hoch geworden, wie der Verfall gemäßigter Kräfte an vielen Orten zeigt. Europa wird auf Dauer um eine weitere Verschärfung nicht herumkommen.

QOSHE - Die Realitätsverweigerung der Grünen - Nikolas Busse
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Die Realitätsverweigerung der Grünen

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11.04.2024

Im Europäischen Parlament herrscht keine strenge Fraktionsdisziplin, wie man sie aus den Parlamenten vieler Mitgliedstaaten kennt. Das liegt daran, dass die Europaabgeordneten keine Regierung stützen müssen. Ihr Abstimmungsverhalten fördert deshalb oft ein ungeschminktes Bild von der Stimmung in Europa zutage. So war es nun auch im Fall der Asylreform: Die politischen Gräben sind bei diesem Thema noch immer groß, zwischen den Mitgliedstaaten genauso wie in ihnen.

Das gilt insbesondere für Deutschland. Dass die Grünen gegen das Paket stimmten, zeigt wieder, dass die Basis der Partei die Regierungsverantwortung noch immer nicht verinnerlicht hat. So wie die Bundestagsfraktion bei der Bezahlkarte taktierte, so haben nun auch die Brüsseler Grünen gezeigt, dass sie letztlich nicht die Interessen deutscher oder europäischer Wähler vertreten, sondern die von Asylbewerbern.

In Deutschland ignorieren sie die Überlastung der Kommunen und die Überforderung der Gesellschaft, in der EU übersehen sie die Verwerfungen in vielen Ankunfts- und Zielstaaten sowie das Scheitern des Dublin-Systems. Das Argument, dass man Migration ohnehin nicht aufhalten könne, wird an den Landgrenzen von Polen, Finnland oder Griechenland widerlegt,........

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