Jetzt, wo die Tage kurz werden und die Nächte lang, wächst wieder der Verdruss vieler Eltern, die Kinder zu früher Stunde aus dem Tiefschlaf zu reißen. Oft müssen sich die Schüler um halb acht, manchmal deutlich früher auf den Schulweg machen, und bald laufen sie durch die Dunkelheit. Was viele Eltern nur als unnötige Belastung erleben, setzt den Kindern ernsthaft zu: Es beeinträchtigt ihr Lernverhalten und ihre Gesundheit. Der erzwungene Morgenappell in deutschen Familien ist kein liebenswerter Anachronismus wie die Schultüte oder die Quietschkreide, sondern ein schädlicher Gewohnheitsritus, der von der Forschung und vom Alltag überholt wurde. Er gehört abgeschafft wie einst die körperliche Züchtigung durch Lehrer.

Ein späterer Beginn des Unterrichts wäre kein Beitrag zur weiteren Verweichlichung der Gesellschaft. Im Gegenteil: Leistungsbereitschaft und Disziplin würden steigen, dürften Kinder und Jugendliche ihren Schulalltag in einem natürlicheren biologischen Rhythmus bewältigen. Seit Jahren gelangen Studien zu dem Ergebnis, dass Schlafmangel und ein Leben in Jetlag-ähnlichen Zuständen Einschränkungen und Risiken bereithalten: Die Konzentration leidet, es wächst die Neigung zu Depressionen. Auch kommt es zu verzögerten Reaktionen, was sich gerade auf dem Schulweg verhängnisvoll auswirken kann.

Dass Morgenstund’ Gold im Mund tragen soll, war schon immer von zweifelhafter Weisheit in einem Land, dessen Morgenstunden in weiten Teilen des Jahres in die Nacht fallen. Wer meint, den jungen Deutschen durch frühes Aufstehen wenigstens noch einen Rest von Lebensschule und Tugend einhauchen zu können, sollte lieber aufs Barrenturnen nach dem Sonnenaufgang setzen oder, wenn’s sein muss, auf das kräftige Absingen deutschen Liedguts in der Pause.

Anders als bei der umstrittenen Einführung der Sommerzeit gibt es nichts, das gegen eine Umstellung der Unterrichtszeit sprechen würde. Für die schrumpfende Zahl von Eltern, deren Jobs noch in aller Herrgottsfrühe beginnen, müssten die Schulen vor dem Unterrichtsbeginn einen Hort bereitstellen – das tun sie ja in der Regel auch nach dem Unterricht. Alle anderen Eltern würden einen beträchtlichen Zuwachs an Lebensqualität verbuchen, könnten sie eine Stunde länger schlafen oder mit ihren Kindern in Ruhe frühstücken.

Die Zeiten sind schwer genug, und die Nation würde eine gute Nachricht schätzen. Wenn überall der Gürtel enger geschnallt werden muss, bei den Finanzen, bei den Zukunftsaussichten, bei den Hoffnungen auf Frieden und Brüderlichkeit, könnte er doch an anderer Stelle auch einmal gelockert werden. Immerhin im Rheinland wurde das verstanden, wo die schwarz-grüne Landesregierung im vergangenen Jahr ein Fanal setzte. Laut Koalitionsvertrag will sie „den Schulen die Möglichkeit einräumen, durch Beschluss der Schulkonferenz den Schulbeginn auf bis zu neun Uhr festzulegen“. In manchen Bundesländern braucht es nicht einmal einen solchen obrigkeitsstaatlichen Segen; dort steht es im Ermessen der Schulen, den Unterrichtsbeginn nach hinten zu verschieben.

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Schenkt uns Zeit!

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03.11.2023

Jetzt, wo die Tage kurz werden und die Nächte lang, wächst wieder der Verdruss vieler Eltern, die Kinder zu früher Stunde aus dem Tiefschlaf zu reißen. Oft müssen sich die Schüler um halb acht, manchmal deutlich früher auf den Schulweg machen, und bald laufen sie durch die Dunkelheit. Was viele Eltern nur als unnötige Belastung erleben, setzt den Kindern ernsthaft zu: Es beeinträchtigt ihr Lernverhalten und ihre Gesundheit. Der erzwungene Morgenappell in deutschen Familien ist kein liebenswerter Anachronismus wie die Schultüte oder die Quietschkreide, sondern ein schädlicher Gewohnheitsritus, der von der Forschung und vom Alltag überholt wurde. Er gehört abgeschafft wie einst die körperliche Züchtigung durch Lehrer.

Ein späterer Beginn des Unterrichts wäre kein Beitrag zur weiteren Verweichlichung der Gesellschaft. Im Gegenteil: Leistungsbereitschaft und Disziplin würden steigen,........

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