Die Frage, ob ich der Wahnsinnige bin oder ob die anderen wahnsinnig sind, diese Frage begleitet eigentlich jeden normalen Menschen dergestalt, dass ihr Ausbleiben als klinisches Symptom gewertet werden kann. Die Rede vom ganz normalen Wahnsinn meint ja gerade dies: In der Normwelt der Gesundheit ist der Keim der Störung angelegt; gestört sind demnach zumal jene, die sich für normal halten. Wolfgang Blankenburg, verstorbener Vertreter der phänomenologischen Psychopathologie, hat fallbezogen die Verdrängungs- und Abwehrtendenzen beschrieben, mit deren Hilfe die gesunde Gewöhnlichkeit ihre normative Position verteidigt. Sein Aufsatz „Die Verselbstständigung eines Themas zum Wahn“ liest sich wie die Betriebsanleitung des sprichwörtlichen Geisterfahrers, der die Warnmeldung im Radio „Achtung, auf der Autobahn kommt Ihnen ein Geisterfahrer entgegen!“ seinerseits gelassen kommentiert: „Wieso einer? Hunderte!“

Es bedeutet ausdrücklich nicht, einen guten Mann kaputtzumachen, wenn man hier mitteilt, dass Hans-Georg Maaßen, der Werteunion-Chef, in einem dicht besetzten Nebensaal der Siegener Mehrzweckhalle dieser Tage an den bewährten Geisterfahrerwitz anknüpfte, dies um dem konservativen Markenkern seiner neuen Partei Kontur zu geben. Er möchte, so Maaßen in Siegen, herausfinden, ob er als „politischer Geisterfahrer unterwegs ist“, also falsch fährt im öffentlichen Netz, oder ob die Anderen – Maaßen nennt die Ampel-Anhänger, die Union – die Wahnsinnigen sind. Am Ende des Abends steht dann der wackere Befund: „Wir sind die Normalen, die Gesunden“, was bedeutet: Nicht ihm, Maaßen, kommen Hundertschaften von Autos entgegen, sondern er fährt auf der richtigen Spur.

Dass der Redner mit einem derart bekräftigten Normalitätsanspruch recht eigentlich erst die Frage nach dem Symptom-Charakter seiner Rede aufwirft, scheint ihm selbst nicht bewusst. Denn in Wahrheit (siehe oben) ist natürlich jenen der Normalitätszuschlag zu geben, die sich bisweilen als Geisterfahrer wahrnehmen – letzteres muss kein schlechtes Zeichen sein, um den engen Rahmen der Unfallforschung hier einmal versuchsweise zu verlassen.

Anders gesagt: Die Hypothese, womöglich doch irre zu sein, sollte schon immer mitlaufen, um für sich selbst einen gebührenden Realitätsbezug beanspruchen zu können. Das Abgelenktsein durch Anerkennung, Erfolge und sonstige Erfahrungen von Selbstwirksamkeit – diese Pfadabhängigkeit tendiert dazu, ein falsch gelebtes Leben zu verfestigen, Selbsttäuschungen aufzusitzen. Wer seinen Wahnsinn indes für möglich hält, statt sich als gesund auszurufen, steht nicht mit dem Bleifuß aufm Pedal, sondern möchte es doch wissen, mehrmals täglich: Wo, bitte, wäre denn hier die Ausfahrt zu nehmen?

QOSHE - Geisterfahrer - Christian Geyer-Hindemith
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Geisterfahrer

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02.05.2024

Die Frage, ob ich der Wahnsinnige bin oder ob die anderen wahnsinnig sind, diese Frage begleitet eigentlich jeden normalen Menschen dergestalt, dass ihr Ausbleiben als klinisches Symptom gewertet werden kann. Die Rede vom ganz normalen Wahnsinn meint ja gerade dies: In der Normwelt der Gesundheit ist der Keim der Störung angelegt; gestört sind demnach zumal jene, die sich für normal halten. Wolfgang Blankenburg, verstorbener Vertreter der phänomenologischen Psychopathologie, hat fallbezogen die Verdrängungs- und Abwehrtendenzen beschrieben, mit deren Hilfe die gesunde Gewöhnlichkeit ihre normative Position verteidigt. Sein Aufsatz „Die Verselbstständigung eines Themas zum........

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