Schon als Individuen, schreibt der Bundespräsident in seinem schmalen Buch „Wir“, „schon als Individuen müssen wir in der Regel gründlich nachdenken und lange ausholen, um uns anderen zu erklären“. Das kann man wohl sagen! Individuum zu sein, ist keine quantité négligeable, die Selbstverständigung macht sich nicht von allein. Nicht umsonst ist die Frage „Wer bin ich?“ ein biographischer Dauerbrenner. Der lange Weg zu sich selbst wird permanent von Aussetzern unterbrochen, abgelenkt und irregeführt. Alles Haltgebende steht unter Vorbehalt: Momentchen mal, wer bin ich noch gleich? Denk ich nur gründlich genug ans Individuum in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht – da trifft Frank-Walter Steinmeier ins Schwarze der poetischen Existenz. Warum holt er dann aber 141 Seiten lang aus, um das Ich von einem politisch normativen Wir her bestimmen zu wollen?

Die Begründung kommt salopp aus der Zukunft daher: „Wir blicken gemeinsam in die Zukunft, ob wir sie selbst erleben werden oder erst unsere Kinder. Kurzum, es ist möglich, ,wir’ zu sagen.“ Aber auch wenn der Zukunftsbezug selbsterklärend allen vorausschauend eingestellten Menschen gemeinsam ist, so hat doch jeder von ihnen seine eigene Vorstellung vom Kommenden. Eben darum stärkt die liberale Demokratie, so ist gegen Steinmeiers philosophischen Etatismus festzuhalten, wer das Ich stärkt, indem er es freisetzt und anhält, sich im Blick auf Andere zu sich selbst zu verhalten.

Steinmeier indes möchte das Ich von einem „Patriotismus der leisen Töne“ in die Pflicht genommen sehen. Die Wir-Schrift setzt vom Staat her den individuellen Ton. Noch immer, so ihr Autor, gebe es „politische Kräfte, die nationale Homogenität herbeiwünschen und sich davon die Lösung unserer Probleme versprechen“. Gehört er, der politische Essayist Steinmeier, nicht auch selbst zu diesen Kräften? Ist nicht auch die Indienstnahme des Ich für ein staatlich ausbuchstabiertes Wir eine Variante der Homogenitätserwartung?

„Weder Götter und Offenbarungstexte, weder Patriarchen und Sittenwächter noch Ahnenforscher oder Identitätskonstrukteure können uns zu- oder vorschreiben, wer wir zu sein haben“, so der Bundespräsident in hohem Ton, um sich sodann mit zu- und vorgeschriebenen Wir-Traditionen selbst an die Stelle der alten Autoritäten zu setzen. Aus Steinmeiers Wir-Schrift spricht eine stramme Sozi-Anthropologie des starken Staats: „Zuversicht und Vertrauen sind ein Produkt des Zusammenhalts einer Gesellschaft.“ Ich und Wir erscheinen hier als gleichursprünglich, wobei, versteht man recht, es den Bürger nur im Wir-Format geben soll, kurzum. Auch darüber sollte vielleicht noch einmal gründlich nachgedacht werden.

QOSHE - Bürger in „Wir“-Uniform - Christian Geyer-Hindemith
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Bürger in „Wir“-Uniform

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21.04.2024

Schon als Individuen, schreibt der Bundespräsident in seinem schmalen Buch „Wir“, „schon als Individuen müssen wir in der Regel gründlich nachdenken und lange ausholen, um uns anderen zu erklären“. Das kann man wohl sagen! Individuum zu sein, ist keine quantité négligeable, die Selbstverständigung macht sich nicht von allein. Nicht umsonst ist die Frage „Wer bin ich?“ ein biographischer Dauerbrenner. Der lange Weg zu sich selbst wird permanent von Aussetzern unterbrochen, abgelenkt und irregeführt. Alles Haltgebende steht unter Vorbehalt: Momentchen mal, wer bin ich noch gleich? Denk ich nur gründlich genug ans Individuum in der Nacht, bin ich um den Schlaf........

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