Wirklichkeit ist jener Teil der Realität, den man selbst wahrhaben will. Das gilt offenbar auch für die Klimapolitik. Erst vor wenigen Tagen bescheinigte der Bundesrechnungshof der Ampelregierung, dass sie sich selbst in die Tasche lüge: Der Ausbau der erneuerbaren Energieträger und der Stromnetze komme nicht so voran wie nötig, die steuerbaren Hintergrundkapazitäten für die Überbrückung von Dunkelflauten reichten nicht aus, die Preise blieben hoch, die Umweltverträglichkeit des Ökostromausbaus lasse zu wünschen übrig. Auch seien die Zukunftsszenarien der Bundesnetzagentur einseitig und viel zu optimistisch und die Frühwarnsysteme funktionierten nicht. Insgesamt sei die Versorgungssicherheit langfristig nicht gesichert.

Stärker könnte der Kontrast zu jener Interpretation kaum sein, die Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und der Präsident des Umweltbundesamts, Dirk Messner, nun geliefert haben. Ihnen zufolge ist Deutschland seit Amtsantritt der rot-grün-gelben Regierung endlich auf dem richtigen Weg gegen die Erderwärmung – und zwar im Einklang mit erträglichen Preisen und ausreichender Verfügbarkeit. Die gesetzlichen Ziele seien „greifbar“, nämlich bis zum Jahr 2030 mindestens 80 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Quellen zu decken (2023 waren es 56 Prozent), sowie den Treibhausgasausstoß im Vergleich zum Jahr 1990 um 65 Prozent zu drücken.

Habeck gestand zu, dass schon die Vorgängerregierung unter Angela Merkel (CDU) diese ehrgeizige Marschrichtung vorgegeben habe. Er wäre aber kein Politiker und möglicher Kanzlerkandidat für die Bundestagswahlen 2025, wenn er nicht zugleich vorgäbe, es besser zu können: Bei seiner Amtsübernahme 2021 habe man bis 2030 nur eine CO2-Minderung von 49 Prozent erwarten können, die von Merkel hinterlassene „Klimalücke“ habe 1100 Millionen Tonnen betragen.

Dank der Ampelpolitik lasse sich dieses Loch nun vollständig schließen. „Zum ersten Mal überhaupt zeigen die Zahlen: Deutschland ist auf Kurs“, sagte Habeck und klopfte sich damit selbst auf die Schulter.

Wer hat Recht, der Rechnungshof oder Habeck? Die Widersprüche entstehen dadurch, dass die Bundesbehörde vor allem die Vergangenheit und den Status Quo betrachtet, und zudem nur die Stromerzeugung. Der Minister und das ihm sekundierende Umweltbundesamt blicken eher die Zukunft. Und zwar für alle Sektoren, also auch für Industrie, Verkehr und Gebäudewärme.

Entscheidend ist, welche heutigen Entwicklungen man wie ins Morgen verlängert. So war ein Teil der jüngsten Energie- und Treibhausgaseinsparungen den hohen Preisen und der schlechten Konjunktur zu verdanken. Es kann aber natürlich nicht das Ziel sein, die Klimaziele auf Kosten sterbender beziehungsweise abwandernder Unternehmen oder frierender Verbraucher zu erreichen.

Hinzu kommt, dass das Vorankommen im Ökostromausbau noch nichts über die tatsächliche Erzeugung aussagt. Das Statistische Bundesamt wies vor wenigen Tagen darauf hin, dass der Anteil der Stromeinspeisung aus Photovoltaik im vergangenen Jahr von weniger als 11 auf fast 12 Prozent gestiegen sei. Diese Verbesserung war aber lediglich auf die geringere Gesamtstromerzeugung zurückzuführen – und nicht auf mehr Sonnenkraft.

Im Gegenteil: Die eingespeiste Solarstrommenge ist 2023 wegen weniger Sonnentage sogar zurückgegangen. Und das, obgleich die installierte Leistung um sage und schreibe 18 Prozent zugenommen hat. Ähnliches gilt für die Windkraft: Ausschlaggebend für den Erfolg der Erneuerbaren sind nicht alleine die Anlagen am Netz, sondern immer auch die Wetterbedingungen.

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Es kommt also darauf an, welche Statistiken man wie interpretiert. Das trifft auch für die zunehmende Abhängigkeit in der Stromerzeugung vom Ausland zu. Im Jahr 2023 hat Deutschland erstmals seit mehr als 20 Jahren wieder mehr Elektrizität eingeführt als ausgeführt. Diese Unterdeckung korreliert mit der Abschaltung der letzten drei Kernkraftwerke. Ursächlich sei der Atomausstieg dafür aber nicht, versichert Habecks Haus. Eher habe Deutschland im vergangenen Jahr noch zu viel teuren Fossilstrom erzeugt und deshalb günstigere grüne Energie in Skandinavien eingekauft. Das sei ein ganz normaler, marktbasierter Vorgang im europäischen Strommarkt.

Diese Lesart unterschlägt freilich, dass auch die französischen Kernkraftwerke seit ihrem Wiederanfahren eine zentrale Rolle für den deutschen Import spielen. Bis zu einem Viertel der eingeführten Mengen stammen aus Atomkraft. Mit anderen Worten: Die weggefallene heimische Nuklearenergie wird nicht zuletzt durch ausländische Nuklearenergie ersetzt. Zum Wohle des Klimas und der Versorgungssicherheit übrigens.

Etwas Weiteres ist bemerkenswert an Habecks jüngsten Äußerungen. Die von der FDP durchgesetzte Abschaffung der Sektorenziele hat sich offenbar bewehrt. Das Ministerium und das Umweltbundesamt gestehen zu, dass sich die Gesamtemissionsmengen im Rahmen halten und auch in Zukunft in die richtige Richtung weisen. Das bedeutet: Was die bisherigen Sorgenkinder Verkehr und Gebäudewärme nicht schaffen, das übernehmen die anderen Ausstoßfelder für sie. Hier immerhin hat die Vernunft Einzug gehalten, denn dem Klima ist es egal, wo das Kohlendioxid vermieden wird.

Es steht zu hoffen, dass die Rationalität in Zukunft noch größeren Einfluss auf die Energie- und Klimapolitik erlangt. Dazu muss Habeck die berechtigten Warnungen des Rechnungshofs endlich ernst nehmen. Sich die Zukunft schönzureden, hilft niemandem. Wunschdenken gefährdet den Wirtschaftsstandort und die private Versorgung. Und es gefährdet auch den Klimaschutz, wenn sich in der Welt herumspricht, dass das deutsche Beispiel nicht funktioniert.

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Schöngefärbte Klimabilanz

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15.03.2024

Wirklichkeit ist jener Teil der Realität, den man selbst wahrhaben will. Das gilt offenbar auch für die Klimapolitik. Erst vor wenigen Tagen bescheinigte der Bundesrechnungshof der Ampelregierung, dass sie sich selbst in die Tasche lüge: Der Ausbau der erneuerbaren Energieträger und der Stromnetze komme nicht so voran wie nötig, die steuerbaren Hintergrundkapazitäten für die Überbrückung von Dunkelflauten reichten nicht aus, die Preise blieben hoch, die Umweltverträglichkeit des Ökostromausbaus lasse zu wünschen übrig. Auch seien die Zukunftsszenarien der Bundesnetzagentur einseitig und viel zu optimistisch und die Frühwarnsysteme funktionierten nicht. Insgesamt sei die Versorgungssicherheit langfristig nicht gesichert.

Stärker könnte der Kontrast zu jener Interpretation kaum sein, die Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und der Präsident des Umweltbundesamts, Dirk Messner, nun geliefert haben. Ihnen zufolge ist Deutschland seit Amtsantritt der rot-grün-gelben Regierung endlich auf dem richtigen Weg gegen die Erderwärmung – und zwar im Einklang mit erträglichen Preisen und ausreichender Verfügbarkeit. Die gesetzlichen Ziele seien „greifbar“, nämlich bis zum Jahr 2030 mindestens 80 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Quellen zu decken (2023 waren es 56 Prozent), sowie den Treibhausgasausstoß im Vergleich zum Jahr 1990 um 65 Prozent zu drücken.

Habeck gestand zu, dass schon die Vorgängerregierung unter Angela Merkel........

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