Lange hatten die acht Länder Ostmitteleuropas und des Baltikums antichambriert, bevor die EU sie am 1. Mai 2004 aufnahm. So lange lag die sowjetische Unterdrückung nicht zurück, als dass die Staaten die russische nicht fürchteten. Deshalb war ihre Erleichterung groß, als 2004 neben der NATO auch die EU ihre Grenze ostwärts verschob und die baltischen Staaten, Polen, die Tschechische Republik, Slowakei, Ungarn und Slowenien zu Beethovens „Ode an die Freude“ willkommen hieß.

Die Freude über den „historischen“ Akt war nicht überall groß. In Deutschland überwog die Sorge vor neuen Kostgängern und Billiglöhnern, die den Arbeitsmarkt überfluten. Kanzler Gerhard Schröder (SPD) nährte Ängste vor der Industrieabwanderung und warnte vor „Steuerdumping“. So kam, dass zwei von drei Deutschen in der EU-Erweiterung mehr Risiko als Chance sahen.

Was für ein Fehlschluss. Die Osterweiterung hat die Menschen reicher gemacht, auch in Deutschland, wo Ökonomen nur über die genaue Nachkommastelle des Wachstumseffektes debattieren. Ungleich größer war der Schub für die Neulinge im Binnenmarkt, für dessen Regeln sie sich in einem harten Reformprozess qualifiziert hatten. Statistiken belegen den beeindruckenden Aufholprozess. In Polen hat sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Kopf seit 2004 verdoppelt. Überall in der Region haben ausländische Direktinvestitionen einen Wirtschaftsboom ausgelöst, die Arbeitslosenraten gehören zu den niedrigsten der Union. Nicht nur die Löhne haben sich an den EU-Schnitt herangerobbt.

Aber die Zustimmung zur Europäischen Union sinkt. EU-skeptische Parteien haben Zulauf. Zum Teil liegt das am Wohlstandsgefälle. Während in urbanen Zentren der Lebensstandard über EU-Durchschnitt liegt, sind die Leute auf dem Land oft abgehängt. Manche Politiker erheben ihre Opposition zur Unionspolitik zum Programm.

Jedes zweite Veto gegen Brüssler Beschlüsse kam zuletzt aus Ungarn. Es ist das Land, das seine Chancen wohl am wenigsten genutzt hat. Das BIP pro Kopf wuchs nur um 40 Prozent, die Auslandsinvestitionen sinken seit 2012 zurück. Anders als Krone und Zloty hat der Forint seit 2004 gut die Hälfte seines Wertes zum Euro verloren. Schlechtes Regieren macht die Menschen ärmer.

Obstruktionspolitik à la Viktor Orbán zeigt aber auch, dass es so in der EU nicht weitergeht – erst recht nicht, wenn die Union wachsen soll. Zuerst muss sie ihre eigenen Regeln schärfen, Abläufe reformieren, finanzielle Verbindlichkeiten klären, bevor neue Mitglieder (Ukraine, Moldau, Westbalkan-Staaten) die Handlungsfähigkeit weiter erschweren. Solange das nicht geschehen ist, sollten Zwischenschritte einer engeren wirtschaftlichen Bindung auf dem Weg in eine spätere Vollmitgliedschaft angeboten werden.

Denn die oft beschworene friedliche, soziale, ökologische und politische Transformation ist auch 20 Jahre nach dem Beitritt der acht (mit Malta und dem griechische Teil Zyperns waren es zehn) kein Selbstläufer. Viel spricht dafür, dass der Zusammenhalt auf weitere Proben gestellt wird. Die nächsten Schritte zur Angleichung der Lebensverhältnisse in der EU werden ungleich schwerer.

Es ist nicht nur die Armut in manchen Staaten, die Regierungen mit Geldzusagen lindern wollen. Die Corona-Krise und die Inflation haben die neue Mittelschicht gebeutelt. Staatsgeld für preisgünstiges Essen, bezahlbare Energiekosten und höhere Renten lassen Etatdefizite und die einst niedrige Staatsverschuldung besorgniserregend anschwellen.

Die wachsende Last tragen weniger Schultern, die Geburtenrate ist schon lange zu niedrig. Auf Ablehnung stößt oft die „grüne Wende“ – weg von der der kohle- und gaslastigen Energieinfrastruktur, selbst wenn „Brüssel“ dafür bezahlt. Über alldem lauern Risiken einer auf die Produktion ausgerichteten Industriestruktur, während anderswo entlang der gesamten Wertschöpfungsketten Geld verdient wird.

Es ist nicht so, dass es keine Chancen gäbe. Arbeitskräfte sind zwar knapp, doch sind sie gut ausgebildet. Die Nähe zu den großen Absatzmärkten der EU macht die Länder Ostmitteleuropas weiterhin interessant für Investoren. EU-Betriebe suchen Alternativen zu Asien, andere kommen aus China, Südkorea oder vom Golf.

Slowaken und Balten profitieren von den Vorteilen der Einbindung in den großen Euro-Kapitalmarkt. Polen, die Tschechische Republik und Ungarn könnten ihre Zugehörigkeit zu EU plakativ unterstreichen, indem sie endlich den Euro adaptieren. Ihr Beitritt zur gemeinsamen Währung wäre ein Schritt zur Vollendung der EU-Osterweiterung.

QOSHE - Das unvollständige Projekt - Andreas Mihm
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Das unvollständige Projekt

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27.04.2024

Lange hatten die acht Länder Ostmitteleuropas und des Baltikums antichambriert, bevor die EU sie am 1. Mai 2004 aufnahm. So lange lag die sowjetische Unterdrückung nicht zurück, als dass die Staaten die russische nicht fürchteten. Deshalb war ihre Erleichterung groß, als 2004 neben der NATO auch die EU ihre Grenze ostwärts verschob und die baltischen Staaten, Polen, die Tschechische Republik, Slowakei, Ungarn und Slowenien zu Beethovens „Ode an die Freude“ willkommen hieß.

Die Freude über den „historischen“ Akt war nicht überall groß. In Deutschland überwog die Sorge vor neuen Kostgängern und Billiglöhnern, die den Arbeitsmarkt überfluten. Kanzler Gerhard Schröder (SPD) nährte Ängste vor der Industrieabwanderung und warnte vor „Steuerdumping“. So kam, dass zwei von drei Deutschen in der EU-Erweiterung mehr Risiko als Chance sahen.

Was für ein Fehlschluss. Die Osterweiterung hat die Menschen reicher gemacht, auch in Deutschland, wo Ökonomen nur über die genaue Nachkommastelle des Wachstumseffektes debattieren. Ungleich größer war der Schub für die Neulinge im Binnenmarkt, für........

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