Als Professor für Völkerrecht verfolge ich mit Besorgnis die Diskussion um die Freigabe von 20 Millionen Franken für das Palästinenserhilfswerk UNRWA. Dieses ist auf die Mittel angewiesen, um weiterhin der Zivilbevölkerung in Gaza die dringend benötigte Nothilfe leisten zu können. Ich bin der Ansicht, dass dabei bisher ein Aspekt noch nicht berücksichtigt wurde – nämlich der völkerrechtliche.

Die UNRWA ist unbestrittenermassen die einzige Organisation, die logistisch in der Lage ist, die dringende Nothilfe für die unter dem Krieg leidende Zivilbevölkerung in Gaza zu verteilen. Gerade wer Israel glaubt, dass es genügend Lastwagen mit Nothilfe nach Gaza lässt, muss anerkennen, dass die Hilfsgüter verteilt werden müssen. Das IKRK hat erklärt, es sei dazu nicht in der Lage.

Zwölf UNRWA-Mitarbeitende (von zwölftausend) werden dringend verdächtigt, an den grauenhaften und durch nichts entschuldbaren Hamas-Angriffen gegen Israelis vom 7. Oktober 2023 beteiligt gewesen zu sein. Rechtfertigt dies, die Unterstützung von zwei Millionen Palästinensern einzustellen, welche dringend Hilfe benötigen, um zu überleben? Ist das keine Kollektivstrafe? Hätte Henry Dunant die Verwundeten von Solferino im Stich gelassen, wenn sich darunter zwölf Vergewaltiger befunden hätten? Die EU, Australien, Kanada, Schweden, Island und Japan haben ihre Unterstützung wieder aufgenommen, weil die Not so schreiend ist und die UNRWA Massnahmen ergriffen hat.

Die Schweiz hingegen hält ihren Unterstützungsbeitrag von 20 Millionen Franken weiter zurück. Sie verunmöglicht damit die humanitäre Hilfe, auf welche Palästinenser in Not gemäss humanitärem Völkerrecht Anspruch haben. Verletzt sie damit ihre Verpflichtung nach den Genfer Abkommen, welche nicht nur deren Einhaltung durch Kriegsparteien verlangen, sondern auch Drittstaaten verpflichten, für deren Einhaltung zu sorgen? So argumentiert jedenfalls Nicaragua in einer Klage gegen Deutschland vor dem IGH. Über diese Klage und den Antrag auf vorläufige Massnahmen wurde letzte Woche verhandelt. Ein Entscheid ist noch ausstehend.

Obendrein hat der IGH in einem anderen Fall im Rahmen vorsorglicher Massnahmen festgehalten, dass in Gaza eine Gefahr des Völkermordes besteht – und zwar auch in der Form von vorsätzlicher Auferlegung von Lebensbedingungen für die Palästinenser, die deren körperliche Zerstörung herbeiführen könnten. Der IGH hat daher Israel einstimmig dazu verurteilt, humanitäre Hilfslieferungen sicherzustellen. Verletzt dann die Schweiz nicht ihre Verpflichtung, einen solchen Völkermord zu verhüten, wenn sie der einzigen Organisation, die in der Lage ist, diese Hilfslieferungen zu verteilen, die nötigen Mittel vorenthält? Genau dies wirft Nicaragua im genannten Verfahren vor dem IGH Deutschland vor, da es die UNRWA derzeit ebenfalls nicht unterstützt. Der IGH wird entscheiden.

Wollen wir darauf warten, dass ein Staat, der wie die Schweiz die allgemeine Zuständigkeit des IGH anerkennt, uns vor die Haager Richter zerrt und uns vorwirft, die Genfer Abkommen und das Völkermordsübereinkommen zu verletzen?

Marco Sassòli ist Professor für Völkerrecht an der Universität Genf.

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Wollen wir, dass man die Schweiz in Den Haag verklagt?

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17.04.2024

Als Professor für Völkerrecht verfolge ich mit Besorgnis die Diskussion um die Freigabe von 20 Millionen Franken für das Palästinenserhilfswerk UNRWA. Dieses ist auf die Mittel angewiesen, um weiterhin der Zivilbevölkerung in Gaza die dringend benötigte Nothilfe leisten zu können. Ich bin der Ansicht, dass dabei bisher ein Aspekt noch nicht berücksichtigt wurde – nämlich der völkerrechtliche.

Die UNRWA ist unbestrittenermassen die einzige Organisation, die logistisch in der Lage ist, die dringende Nothilfe für die unter dem Krieg leidende Zivilbevölkerung in Gaza zu verteilen. Gerade wer Israel glaubt, dass es genügend Lastwagen mit Nothilfe nach Gaza lässt, muss anerkennen, dass die Hilfsgüter verteilt werden müssen. Das IKRK hat erklärt, es sei dazu nicht in der Lage.

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