In der Welt der Slam-Poetry habe ich eine faszinierende Mischung aus Leidenschaft, Kreativität und Gemeinschaft erlebt. Ich erinnere mich an eine junge Dichterin, die über ihre Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch sprach. Ihre Darbietung war so eindringlich und kraftvoll, dass sie den Raum in eine betroffene Stille versetzte. Ihre ersten Worte kamen zögerlich, als würden sie den Weg durch die Stille suchen. Doch mit jeder weiteren Zeile und jeder Reaktion des Publikums gewann die Poetin an Zuversicht.

Was diesen Auftritt so unvergesslich machte, war die offensichtliche Überwindung ihrer eigenen Ängste. Man konnte förmlich sehen, wie sie mit jedem Satz ihre eigene Unsicherheit ablegte und in die Rolle der Geschichtenerzählerin schlüpfte, die sie sein wollte. Als sie ihre letzte Zeile sprach, war es, als hätte sie nicht nur die Herzen des Publikums erreicht, sondern auch einen inneren Kampf gewonnen. So galt der Applaus, der ihr zuteilwurde, nicht nur der Darbietung, sondern auch ihrer bemerkenswerten Courage, sich vor einem Publikum zu öffnen und ihre innersten Gedanken und Gefühle zu teilen.

Ein Poetry-Slam ist ein lebendiges Forum, in dem Künstlerinnen und Künstler ihre Werke in einem aufregenden Wettbewerbsformat präsentieren. Oft als «Dichterwettstreit» bezeichnet, stellen Poetry-Slams einen Bruch mit den traditionellen Literaturlesungen dar. Ihr Ziel ist eine interaktive Beziehung zwischen den Vortragenden und dem Publikum.

Der Wettbewerb folgt dabei einem festgelegten Regelwerk, das für Fairness und Gleichheit unter den Teilnehmenden sorgen soll.

Zeitlimit: Jede Darbietung erhält ein begrenztes Zeitfenster. Dies zwingt die Teilnehmenden, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und ihre Botschaft prägnant zu vermitteln.

Originalität: Die vorgetragenen Werke müssen Eigenkreationen der Vortragenden sein.

Keine Requisiten: Die Verwendung von Requisiten, Kostümen oder Musikinstrumenten ist in der Regel nicht gestattet.

Publikumsbeteiligung: Das Publikum spielt eine entscheidende Rolle. Meist wird durch Applaus entschieden, wer in die nächste Runde kommt und ein weiteres Werk vortragen darf.

Sprache und Form: Während in der Schweiz das Hochdeutsche oft Verwendung findet, sind Dialekte und andere Sprachen ebenfalls willkommen. Die Form ist frei, von klassischen Gedichtformen bis hin zu freier Lyrik oder prosaischen und experimentellen Stücken ist alles erlaubt.

Respekt und Offenheit: Ein zentraler Wert bei Poetry-Slams sind der gegenseitige Respekt und die Offenheit gegenüber den Beiträgen aller Teilnehmenden. Die Themen, Stile und Persönlichkeiten sollen vielfältig sein.

Entsprechend vielfältig war auch meine persönliche Erfahrung. Längst nicht immer geht es um tragische Erlebnisse wie sexuellen Missbrauch. Ich habe auch Darbietungen erlebt, die mit humorvollen Geschichten über die Absurditäten des Alltags das Publikum zum Lachen brachten. Ich erinnere mich an einen Poeten, der uns von Dating-Fails und missglückten Kochexperimenten, während des Lockdown berichtete. Seine Geschichten schufen eine verbindende Atmosphäre im Raum. Slam-Poetry kann tiefgründig und emotional sein, aber auch absurd und witzig.

Diese Erfahrungen hinterliessen bei mir einen tiefen Eindruck. Ich empfinde Respekt für den Mut, den es braucht, um seine eigene Stimme in der Welt zu finden – und sie auch zu erheben. Meines Erachtens ist es diese Unmittelbarkeit und Echtheit, die Slam-Poetry zu einer der aufrichtigsten Kunstformen macht.

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QOSHE - Die aufrichtigste Kunstform - Cenk Korkmaz
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Die aufrichtigste Kunstform

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27.02.2024

In der Welt der Slam-Poetry habe ich eine faszinierende Mischung aus Leidenschaft, Kreativität und Gemeinschaft erlebt. Ich erinnere mich an eine junge Dichterin, die über ihre Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch sprach. Ihre Darbietung war so eindringlich und kraftvoll, dass sie den Raum in eine betroffene Stille versetzte. Ihre ersten Worte kamen zögerlich, als würden sie den Weg durch die Stille suchen. Doch mit jeder weiteren Zeile und jeder Reaktion des Publikums gewann die Poetin an Zuversicht.

Was diesen Auftritt so unvergesslich machte, war die offensichtliche Überwindung ihrer eigenen Ängste. Man konnte förmlich sehen, wie sie mit jedem Satz ihre eigene Unsicherheit ablegte und in die Rolle der Geschichtenerzählerin schlüpfte, die sie sein wollte. Als sie ihre letzte Zeile sprach, war es, als hätte sie nicht nur die Herzen des Publikums erreicht, sondern auch einen inneren........

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