Die Verhaftungen von Sympathisanten des Islamischen Staats (IS) in der Deutschschweiz im April, diejenigen in der Westschweiz sowie die Messerattacke in Zürich Anfang März haben eines gemeinsam: Sie betrafen junge Männer zwischen 15 und 18 Jahren.

Die Frage, ob wir es hier mit einer neuen IS-Generation zu tun haben, darf zunehmend bejaht werden. Wie kommt es, dass sich ein Jahrzehnt nach Ausruf des sogenannten Kalifats Menschen zu dieser notorischen Terrororganisation bekennen? Nachfolgend eine Erklärung in fünf Punkten:

Erstens gewinnen terroristische Organisationen an Zulauf, wenn asymmetrische Konflikte mediatisiert werden. Das Leiden der Zivilbevölkerung im syrischen Bürgerkrieg ab 2011 trug massgeblich zur Welle der Jihad-Reisenden bei. Hinzu kam die leichte geografische Zugänglichkeit.

Dies ist bei der nun über sechs Monate andauernden und trotz jüngster UN-Resolution nicht abnehmenden Bombardierung des Gazastreifens anders. Umso häufiger dürften Jihad-Sympathisanten auf andere Ziele ausweichen.

Zweitens weiss der IS das Leiden der Palästinenserinnen und Palästinenser gekonnt für sich zu nutzen. Die IS-Medien feiern heute noch die Zürcher Messerattacke. Das rebellische Selbstporträt der Gruppe, die sich als einziger Verteidiger der unterdrückten Muslime präsentiert, funktioniert bei Jungen mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn.

Drittens gehen Propagandaverbreitung und Kontaktfindung auf Applikationen vonstatten, die sich der formellen und informellen sozialen Kontrolle entziehen. Telegram ist mittlerweile Mainstream. Wem aber sagen Discord, Rocketchat und Co. etwas?

Viertens muss berücksichtigt werden, dass heutige 15-Jährige zum Zeitpunkt der IS-Anschläge in Europa ab 2015 noch in den Kinderschuhen steckten. Sie haben keinen direkten Zugriff auf dieses schmerzhafte kollektive Gedächtnis, welches in vielerlei Hinsicht abschreckend wirkte – die Schweiz verzeichnet seit 2016 keine Jihad-Reisen mehr. Wenn sie heute in einer Phase des religiös-politischen Erwachens auf den IS stossen, begünstigen diese fehlenden emotionalen und intellektuellen Ressourcen eine naiv-rebellische Empfänglichkeit.

Fünftens: Junge Menschen, die sich mit dem Islam identifizieren, spüren die negativen Auswirkungen der Präventionsagenda, die sich seit 2015 durchsetzt. Die kriminologische Forschung zeigt, dass übereifrige Extremismusprävention zu Stigmatisierung und Ausschluss führen und dadurch Radikalisierungsvorgänge begünstigen kann.

Terrorismusprävention bleibt ein anspruchsvolles Terrain. Dennoch gibt es keinen Grund, in Fatalismus zu verfallen. Im Lichte der vorerwähnten Faktoren drängen sich folgende Handlungslinien auf: das Verfolgen einer kohärenten Aussenpolitik zum Palästina-Konflikt unter Vermeidung von Doppelmoral; eine verbesserte Kontrolle der Aktivitäten von Jugendlichen in geschlossenen Chaträumen; eine Sensibilisierung für den Umgang mit Bildern aus Konfliktgebieten und die propagandistische Verwertung derselben.

Schliesslich müssen junge Menschen ihre Fragen über das Leiden in Gaza in einem konstruktiven Setting besprechen können. Bleibt ihnen dieser Raum verwehrt, werden einige von ihnen immer wieder einfache Antworten bei Gruppierungen wie dem IS finden.

Ahmed Ajil ist Kriminologe und Terrorismus­forscher.

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In der Schweiz wächst eine neue IS-Generation heran

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18.04.2024

Die Verhaftungen von Sympathisanten des Islamischen Staats (IS) in der Deutschschweiz im April, diejenigen in der Westschweiz sowie die Messerattacke in Zürich Anfang März haben eines gemeinsam: Sie betrafen junge Männer zwischen 15 und 18 Jahren.

Die Frage, ob wir es hier mit einer neuen IS-Generation zu tun haben, darf zunehmend bejaht werden. Wie kommt es, dass sich ein Jahrzehnt nach Ausruf des sogenannten Kalifats Menschen zu dieser notorischen Terrororganisation bekennen? Nachfolgend eine Erklärung in fünf Punkten:

Erstens gewinnen terroristische Organisationen an Zulauf, wenn asymmetrische Konflikte mediatisiert werden. Das Leiden der Zivilbevölkerung im syrischen Bürgerkrieg ab 2011 trug massgeblich zur Welle der Jihad-Reisenden bei. Hinzu kam die leichte geografische Zugänglichkeit.

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