Die Ansage von FDP-Präsident Thierry Burkart war unmissverständlich: «Eine Partei, die bis jetzt keinen Sitz im Ständerat besetzt, hat keine Legitimation, im Bundesrat vertreten zu sein.» Die gegen die Regierungsgelüste der GLP gerichteten Worte machen deutlich: Ständeratswahlen sind wichtig. Doch: Obwohl die parteipolitischen Mehrheitsverhältnisse in der Zweiten Kammer noch nicht feststehen, ist das Publikumsinteresse an zweiten Ständeratswahlgängen meist sehr gering. So fanden beim entscheidenden Wahlgang der Zürcher Ständeratswahlen im November 2019 nur etwa ein Drittel der Stimmberechtigten den Weg an die Urne. Anderswo liegt die Beteiligung in der zweiten Runde sogar noch tiefer. Dabei gibt es gute Gründe, weshalb es sich lohnt, an der entscheidenden Ausmarchung der Ständeratswahlen teilzunehmen.

Laut Bundesverfassung sind National- und Ständerat einander gleichgestellt. Ein Erlass der Bundesversammlung gilt nur, wenn beide Kammern zustimmen. Die Realität hat aber schon immer anders ausgesehen: Im 19. Jahrhundert war der Ständerat die untergeordnete Kammer, diejenige der katholisch-konservativen Verlierer des Sonderbundskriegs, während im Nationalrat die freisinnig-liberalen Gewinner den Ton angaben. Entsprechend wagte es die Kantonskammer damals kaum, einen von der Volkskammer vorgängig behandelten Gesetzesentwurf massgeblich abzuändern. Ständeräte, die etwas auf sich hielten, liessen sich bei nächster Gelegenheit für den prestigeträchtigeren Nationalrat aufstellen, um politisch aufzusteigen. Aus gutem Grund käme das heute keinem Ständerat mehr in den Sinn. Heute ist der Karriereweg umgekehrt, so wie ihn etwa Thierry Burkart, Esther Friedli oder Daniel Jositsch gegangen sind: vom National- in den Ständerat. Einmal dort angekommen, verlagern sie ihre Position in Richtung der politischen Mitte, um wiedergewählt zu werden. Das gilt insbesondere für Vertreter der Polparteien.

Die Ständerats-Mitglieder sind quasi die Elite der politischen Elite.

Für die Aufwertung des Ständerats sorgten die Einführung der Volkswahl der Ständeräte sowie die Verlängerung ihrer Amtsdauer. Zudem gewann der Ständerat mit dem Instruktionsverbot grössere Unabhängigkeit von den kantonalen Regierungen und damit an Ansehen. Das bleibt nicht ohne Konsequenzen: Heute gewichten die Ständeräte ihr Parteibuch in aller Regel höher als das Kantonswappen. Um ihre Interessen in der Bundespolitik anderweitig zu wahren, mussten die übergangenen Kantonsregierungen längst neue Strategien des Kantonslobbyings erschliessen.

Nicht nur die Reputation, sondern auch der Einfluss der zweiten Kammer hat sich massiv verändert. Im Konfliktfall schliesst sich der Nationalrat eher dem Ständerat an als umgekehrt, wie eine Untersuchung von rund 1000 bundesrätlichen Erlassentwürfen und der Differenzbereinigungsverfahren aus den letzten Jahrzehnten zeigt. Ein wichtiger Grund liegt darin, dass der Ständerat häufiger Erstrat ist. Und weil er in der Beratung bundesrätlicher Vorlagen so zuerst die wichtigen Pflöcke einschlagen kann, setzt sich der Ständerat öfters durch. Kurz: Der Ständerat ist heute der einflussreichere Rat. Und er setzt sich auch im internationalen Vergleich an die Spitze: Unter den etablierten Demokratien ist der Ständerat sogar die stärkste aller zweiter Kammern.

Wer profitiert nun von einer starken zweiten Parlamentskammer? Ganz klar die beiden bürgerlichen Parteien FDP und die Mitte (ehemals CVP). Gleichzeitig besetzen die beiden grossen Polparteien SVP und SP nur je rund ein halbes Dutzend Sitze. Unterdurchschnittlich repräsentiert sind aber auch einzelne Bevölkerungsgruppen wie Frauen und unter 40-Jährige. Im Durchschnitt sind die Ständeräte fünf Jahre älter als die Nationalräte, weshalb der Beiname «Stöckli» noch heute zutrifft.

Das Parlament setzt sich sowieso vor allem aus einer kleinen Schicht von Akademikern, Berufspolitikerinnen und Wirtschaftsvertretern zusammen. Dieses Repräsentationsdefizit der Volkskammer verschärft sich im Ständerat zusätzlich. Dessen Mitglieder sind quasi die Elite der politischen Elite. Nicht zufällig weicht der Ständerat bei Volksabstimmungen mit seinen Positionen stärker von der Volksmeinung ab als der Nationalrat. Gleichzeitig hat der Knatsch zwischen der ersten und der zweiten Kammer in neuester Zeit zugenommen. 30 Einigungskonferenzen mussten in dieser Legislatur einberufen werden, weil sie sich nicht einigen konnten. Das ist neuer Rekord.

Fazit: Die beiden Parlamentskammern sind zerstritten wie nie zuvor. Im Konfliktfall setzt sich aber der Ständerat gegenüber der Volkskammer häufiger durch. Gleichzeitig ist er noch weniger repräsentativ zusammengesetzt als der Nationalrat. Das sind doch gute Gründe, an den entscheidenden Wahlgängen zur weltweit stärksten zweiten Kammer teilzunehmen.

Der Politologie-Professor Adrian Vatter und die promovierte Politologin Rahel Freiburghaus von der Universität Bern überprüfen wöchentlich gängige Annahmen über die nationalen Wahlen im Licht der politikwissenschaftlichen Forschung. Und stellen zur Debatte, wie Macht in der hiesigen Demokratie (zu)geteilt wird.

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Wie wichtig sind die Ständeratswahlen?

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14.11.2023

Die Ansage von FDP-Präsident Thierry Burkart war unmissverständlich: «Eine Partei, die bis jetzt keinen Sitz im Ständerat besetzt, hat keine Legitimation, im Bundesrat vertreten zu sein.» Die gegen die Regierungsgelüste der GLP gerichteten Worte machen deutlich: Ständeratswahlen sind wichtig. Doch: Obwohl die parteipolitischen Mehrheitsverhältnisse in der Zweiten Kammer noch nicht feststehen, ist das Publikumsinteresse an zweiten Ständeratswahlgängen meist sehr gering. So fanden beim entscheidenden Wahlgang der Zürcher Ständeratswahlen im November 2019 nur etwa ein Drittel der Stimmberechtigten den Weg an die Urne. Anderswo liegt die Beteiligung in der zweiten Runde sogar noch tiefer. Dabei gibt es gute Gründe, weshalb es sich lohnt, an der entscheidenden Ausmarchung der Ständeratswahlen teilzunehmen.

Laut Bundesverfassung sind National- und Ständerat einander gleichgestellt. Ein Erlass der Bundesversammlung gilt nur, wenn beide Kammern zustimmen. Die Realität hat aber schon immer anders ausgesehen: Im 19. Jahrhundert war der Ständerat die untergeordnete Kammer, diejenige der katholisch-konservativen Verlierer des Sonderbundskriegs, während im Nationalrat die freisinnig-liberalen Gewinner den Ton angaben. Entsprechend wagte es die Kantonskammer damals kaum, einen von der Volkskammer........

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