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Was passiert gerade an der Ukraine-Front? Wie man Mapping und Clips richtig deutet

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tuesday

Plötzlich habe sich das Blatt im Ukraine-Krieg gewendet: Pokrowsk, die tapfere Burg des Donbas, sei doch nicht an Russland gefallen. Ukrainische Kräfte säuberten das Stadtzentrum, erste Russenverbände flöhen – ein Wendepunkt! Wie immer, wenn auf der politischen Bühne die militärische Lage eine Rolle spielt, füllt sich das Netz gerade mit Mutmacher-Geschichten, wobei in der westlichen Media-Sphäre die pro-ukrainischen dominieren.

Dieser Content wird von Social-Media-Ressourcen mit oft generischen Namen verbreitet, zum Beispiel Kombinationen aus „News“ oder „Media“ sowie „Military“ oder „Aviation“ und „Ukraine“ oder ähnlichem. Ihre heillos übertriebenen und oft auf Wunschdenken basierenden Behauptungen erinnern ein wenig an „Baghdad Bob“: Unter diesem Spitznamen wurde im letzten Golfkrieg Saddam Husseins Informationsminister bekannt, der bis zum Schluss behauptete, es sei alles unter Kontrolle. Heute sendet ein ganzes Heer von Baghdad Bots: „Grippe legt Russlands Truppen lahm“, „Putin has already lost the war in Ukraine“, „Russland-Front bricht in Pokrowsk“.

Die Frage nach der Front-Situation ist ein Knackpunkt des derzeitigen Ringens um ein Kriegsende. Ist der Donbas für die Ukraine ohnehin verloren, wie es seitens der USA im Kontext der 28 Punkte von Donald Trump hieß? Dann ergäbe Moskaus Forderung einen gewissen Sinn, die Ukraine solle sich dort kampflos zurückziehen. Ist der weitere Kriegsverlauf aber vollkommen offen oder wendet sich das Blatt tendenziell gegen Russland, wie etwa die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas behauptet, sähe das ganz anders aus. An diesen Unklarheiten arbeiten sich im Netz inzwischen zahlreiche Mappings ab. Doch ist die Einordnung alles andere als einfach.

Immerhin gibt es viel Material. Die allgegenwärtigen Drohnen sorgen nicht nur militärisch für ein „transparentes Schlachtfeld“, sondern in gewissen Grenzen auch für Interessierte. Die Fluggeräte produzieren auf beiden Seiten eine unendliche Flut an Videos. Oft werden diese blutrünstig ästhetisiert und zwecks Propaganda in Messenger-Kanälen verbreitet, meist auf Telegram.

Insofern sich diese Videos aber geo-lokalisieren lassen, können sie tatsächlich als Informationsquelle dienen. Auf dieser Basis sind vor allem auf YouTube zahlreiche Mapping-Kanäle mit oft beträchtlichen Reichweiten entstanden, die täglich – oder sogar öfter – die Frontkarte aktualisieren: Rot steht für russisch kontrolliert, gelb meist für ukrainisch und grau für umkämpft.

Was heißt es nun, wenn ein Video etwa zeigt, wie ukrainische Drohnen einen Zug russischer Infanterie zerfetzen? Das ist auch aus pro-ukrainischer Sicht nicht unbedingt eine „gute Nachricht“. Lässt sich der Angriff nämlich in einem bislang gelben – also ukrainisch kontrollierten – Gebiet lokalisieren, kann das auch auf Kontrollverluste hinweisen. Gerade jüngst gab es im pro-ukrainischen Telegram sehr viele solche Aufnahmen. Ohne Kontext wirkte das, als werde der Feind gerade massakriert, die Jubel-Kommentare häuften sich.

„Gemappt“ erzählten diese Videos aber teils eine andere Geschichte, nämlich von russischen Vorstößen an verschiedenen Frontabschnitten.

Natürlich können solche Kill-Clips auch zeigen, wie Angriffe erfolgreich gestoppt werden. Bei der Frage, wann Gebiete umzufärben sind, gibt es erhebliche Interpretationsspielräume. Ernsthafte Mapper diskutieren in ihren Postings, weshalb sie sich wo für oder gegen eine Kartenanpassung entschieden haben. Als Zusatzmaterial greifen sie dabei auf On-the-Ground-Clips, Fotos von Flaggenhissungen oder Social-Media-Wortmeldungen aus den Truppen zurück – die auf ukrainischer Seite häufiger sind als auf russischer. Zuweilen zieht man auch Zeitungsberichte oder offizielle Verlautbarungen hinzu.

In den Netz-Diskussionen geht es gerade viel um die umzingelte Doppelstadt Pokrowsk/Myrnohrad. Im Detail ist die Situation dort unübersichtlich: Möglicherweise haben lokale ukrainische Gegenangriffe einen schmalen, prekären Korridor geöffnet, durch den sich Teile der Garnison von Myrnohrad – der östlichen Hälfte der Doppelstadt – in westlicher Richtung an Pokrowsk vorbei zurückziehen könnten.

Vielleicht haben sich die Russen auch gezielt ein Stückchen zurückgezogen, um etwas Druck aus diesem Kessel zu lassen, den sie zugleich aus allen vier Richtungen attackieren. Ein solches Ventil-Manöver wäre nicht neu. Seit Mariupol vermeidet das russische Militär Situationen,........

© der Freitag