Ohne den Flugplatz Wilhelmshaven-Mariensiel in Ostfriesland gäbe es das Lied gar nicht. Heute heißt er Jade-Weser-Airport, traumhaft an Nordseeküste und Jadebusen gelegen, einer der schönsten kleinen Flugplätze Deutschlands. Ideal für Hobbyflieger und solche, die es werden wollen. So wie Reinhard Mey 1972 und ’73, als er seinen Pilotenschein hier gemacht hat. Ein Jahr lang hat er in der 400-Seelen-Gemeinde Sande-Mariensiel gelebt und für den Schein sogar seine Karriere unterbrochen.

„Mey war einer der eifrigsten Flugschüler, die wir je hatten“, sagt Gerd Grimm, Jahrgang 1937, langjähriger Vorstand der Motorfluggruppe Wilhelmshaven-Friesland e. V. Die Wolken, die Mey besingt, sind genau diese Wolken über Wilhelmshaven. Hier steht auch die sagenumwobene → Luftaufsichtsbaracke und immer noch kocht irgendjemand Kaffee. Jeder gute Song braucht Inspiration. Bei Taylor Swift sind es gescheiterte Beziehungen, bei Reinhard Mey ist es das kribbelnde Gefühl zwei Kilometer über dem Erdboden.

Über den Wolken ist die Hymne aller Flieger in Deutschland, sagen die Piloten vom Jade-Weser → Airport. Bei jeder Flieger-Party in Mariensiel wird das Lied gespielt, mitgesungen, mitgeschunkelt. Es gibt ein Plattencover von der Single, da ist sogar das Leitwerk eines Kranich-Fliegers zu sehen. Dabei ist es nur vordergründig ein Fliegerlied, in Wahrheit ist es natürlich eine Freiheitshymne. Die populärste, die wir haben. Da aber heute jeder seinen eigenen Freiheitsbegriff pflegt, wäre es angeraten, den Text vielleicht als Pflichtlektüre in den Schulen durchzunehmen.

Nur „über“ den Wolken ist die Freiheit wohl grenzenlos, singt Mey. Unten auf Erden endet sie dort, wo die Freiheit des Gegenübers beginnt. Und die Flieger wissen genau: so frei wie dort oben fühlen wir uns nirgendwo sonst. Es ist die ganz eigene Thermik dieses Liedes, die uns alle erhebt – Flieger oder nicht!

Reinhard Meys Lied ist auch deshalb noch so spannend, weil es längst eine identitätsstiftende Bedeutung erlangt hat. Jeder kennt es, jeder kann es singen, summen, bei jedem klickt was, wenn der Titel fällt. Es ist kollektives Gedächtnis, nationale Identität, einer der wenigen gemeinsamen Nenner unseres Landes. Eine Art kulturelles Kfz-Kennzeichen für Deutschland (→ Zwölf Millionen). Fragt man die Künstliche Intelligenz, etwa ChatBox: „Welches Lied verbindet die Menschen in Deutschland generationsübergreifend am meisten?“, antwortet uns die KI: Über den Wolken von Reinhard Mey, vor Marmor, Stein und Eisen bricht von Drafi Deutscher (1965) und 99 Luftballons von Nena (1983).

Blöd nur, dass dieser gemeinsame Nenner zunehmend erodiert in Zeiten woker Identitätssuche und Cancel Culture. Gefragt ist nun nicht mehr das Verbindende, sondern Identität betont heute die Unterschiede, etwa in Fragen der Sprache, bei Geschlecht oder Ethnie. Ob Reinhard Mey gendert? Wohl eher nicht!

Am 21. März 1973 absolvierte der Hobbypilot Reinhard Mey seinen allerersten Alleinflug. Anders als Fahrschüler sind Flugschüler recht schnell auf sich allein gestellt beim Runden drehen hoch oben über den Wolken. Als Mey an jenem sonnigen Märztag mit seiner französischen Propellermaschine Morane MS 880 B (Kennzeichen: D-EBVH) wieder sicher am Tower gelandet war, wurde ihm erst mal von seinem Fluglehrer die grün-beige-grau-gestreifte Krawatte abgeschnitten und symbolisch der Hintern versohlt. Uralte Fliegertradition. Man sagt, das Gefühl fürs Fliegen liegt, gerade bei schwierigen Bedingungen, wenn man auf Sicht fliegen muss, in den Hinterbacken. Denen Meys wird fast so großes Talent nachgesagt wie seiner Chansonkunst. Seine abgeschnittene Fliegerkrawatte hängt seit jenem Tag im Flur vor dem Schulungsraum des Flughafens.

Deutsch ist die Sprache der Dichter und Denker, so weit die Binse. Die Sprache von Fritz Lang und Wim Wenders: M – Eine Stadt sucht einen Mörder, Himmel über Berlin. Ja, na klar. Aber Deutsch war nie eine Sprache der Sängerinnen und Sänger (→ Unter den Wolken). Das sagt der Filmregisseur Christian Petzold (Roter Himmel), der wiederum Über den Wolken für „das einzige gute deutsche Volkslied“ hält. Reinhard Mey kam eines Tages jedenfalls auf die Idee, es einfach mal zu versuchen. Und es stellte sich heraus: Kaum einer kann mit deutscher Sprache so umgehen wie er, so genau, so „taktvoll“ und überraschend.

Kein anderer kann zum Klingen bringen, was eigentlich gar nicht klingen kann, etwa wenn es um Behördensprache oder Wortungetüme geht wie „Aktenhauptverwertungsstelle Nord“, „Durchschriftexemplar“ oder eben jene berühmte „Luftaufsichtsbaracke“ (→ Airport) aus dem Evergreen Über den Wolken. Reinhard Mey findet noch in jeder Amtsstube ein Fitzelchen Poesie.

Welcher Song hat schon sein eigenes Magazin? Aber Über den Wolken ist ein Jahrhundertsong. Seit dem 15. April können Meyianer und solche, die es noch werden wollen, das Jubiläumsmagazin zu 50 Jahren Über den Wolken über die Website www.überdenwolken.online ordern. Eine 100 Seite dicke Hommage an dieses besondere Lied und seinen Macher. Der Liedtext wird auf neun Doppelseiten über den Wolken von Wilhelmshaven bebildert. Schwerpunkt ist ein 40 Seiten langes autobiografisches Versgespräch mit Mey, in dem dieser nur mit seinen Liedtexten aus sechs Jahrzehnten antwortet. Reinhard Mey war Zeit seiner Karriere immer mehr als nur gewöhnlicher Chansonnier.

50 Jahre „Über den Wolken“, Thilo Komma Pöllath, Oliver Wurm100 Seiten, 12 Euro

Es ist ein nahezu ikonischer Liedanfang: „Wind Nord-Ost, Startbahn null-drei“.Gemeint ist die Startbahn null-drei des Flugplatzes Wilhelmshaven-Mariensiel (→ Airport). Jeder von uns hat das schon irgendwann, irgendwo mal gesungen. Es ist vielleicht sogar Meys wichtigste Liedzeile. Und jetzt das: sie stimmt nicht mehr. Kein Schmäh, der Text ist nicht mehr ganz richtig. Rainer Luff, seit 25 Jahren Fluglehrer am Jade-Weser-Airport, sagt, die Kursrichtung der Landebahn Nord-Ost des Flugplatzes habe sich geändert, sie betrage heute nicht mehr 30 Grad, sondern jetzt 20 Grad. Der Grund dafür sei, dass sich der magnetische Nordpol jedes Jahr rund zehn Kilometer Richtung Sibirien verschiebe. Geologische Erdbewegungen. Und deshalb würden jetzt geänderte Geschäftsbedingungen für die Nutzung des Himmels gelten: null-zwei statt null-drei. „Wind Nordost, Startbahn null-zwei“. Sollten wir Reinhard Mey anrufen und dringend bitten, den Text anzupassen? Bringt nix, sagt Luff. Selbst Meys Magie könne die Wanderung des magnetischen Nordpols nicht aufhalten.

Wie sehr Über den Wolken bis heute wirkt und Einfluss hat, zeigt die Replik der Toten Hosen von 2017. Das kribbelnde Gefühl des Fliegens und der Freiheit ist sprichwörtlich verflogen. In Unter den Wolken ist die Gesellschaft kalt und rau geworden, den Menschen regnet es kalt rein. Im Refrain heißt es:

Unter den Wolken

Wird’s mit der Freiheit langsam schwer

Wenn wir hier und heute

Alle wie betäubt sind

Unter den Wolken

Gibt’s keine Starterlaubnis mehr

Für all die Träume

All unsre Träume

Damit wir unsere Träume und unsere Freiheit niemals aufgeben, dafür bleibt uns nur Meys Original von 1974 – als Kompass und Ermutigung.

Über den Wolken ist ein deutscher Welthit. Gemeint ist: ein Hit für alle Deutschen in der Welt. Für den Berliner Uni-Dozenten Peter auf der Heyde war das Lied der Soundtrack zur → Freiheit im Südafrika der Rassentrennung. Seine Eltern waren nach dem Krieg ans Kap ausgewandert. Als auf der Heye sich in den 1980er-Jahren den Studentenprotesten gegen die Apartheid anschloss, lief in seinem Wohnheim in Grahamstown eine Platte rauf und runter: Wie vor Jahr und Tag.

Immer wieder setzte er die Nadel seines Plattenspielers an die erste Rille zum achten Stück. Der Text des Liedes habe seine Bewusstseinsbildung stärker beeinflusst als jeder andere, sagt auf der Heyde. „Mey sprach in seinen Texten aus, was ich fühlte.“ Ähnlich die beliebte ostdeutsche Schauspielerin Katrin Sass (Good Bye Lenin, Usedom-Krimi). Sie nennt Über den Wolken das „Lied meines Lebens“, es sei für sie eine Art „vorweggenommene Wiedervereinigung“ gewesen. Die Apartheid und die DDR, sie sind Geschichte. Und Über den Wolken ist auch mit 50 noch so „groß und wichtig“, wie es immer war.

Weit über zwölf Millionen Mal wurde Über den Wolken in der Originalfassung von Reinhard Mey auf Spotify gestreamt. In der Fassung von Dieter-Thomas Kuhn kommen noch mal sechs Millionen Streams dazu. Dann noch die Interpretationen von Otto Waalkes oder Xavier Naidoo, die französische Au-dessus des nuages und die niederländische Version Boven de wolken sowie verschiedene Instrumental-Fassungen. Was macht ein Lied zum Volkslied, zum Evergreen? Man hört es immer wieder, über Jahre und Jahrzehnte, in allen Stimmungslagen, zu allen Gelegenheiten, es nutzt sich einfach nicht ab. Mehr noch: Es euphorisiert beim hundertsten Hören genauso wie beim ersten Mal. Alle Ängste, alle Sorgen, Sagt man / Bleiben darunter verborgen Und dann / Würde, was uns groß und wichtig erscheint / Plötzlich nichtig und klein.

QOSHE - Lexikon | „Über den Wolken“ von Reinhard Mey: Was Sie über den Kultsong wissen müssen - Thilo Komma-Pöllath, Oliver Wurm
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Lexikon | „Über den Wolken“ von Reinhard Mey: Was Sie über den Kultsong wissen müssen

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15.04.2024

Ohne den Flugplatz Wilhelmshaven-Mariensiel in Ostfriesland gäbe es das Lied gar nicht. Heute heißt er Jade-Weser-Airport, traumhaft an Nordseeküste und Jadebusen gelegen, einer der schönsten kleinen Flugplätze Deutschlands. Ideal für Hobbyflieger und solche, die es werden wollen. So wie Reinhard Mey 1972 und ’73, als er seinen Pilotenschein hier gemacht hat. Ein Jahr lang hat er in der 400-Seelen-Gemeinde Sande-Mariensiel gelebt und für den Schein sogar seine Karriere unterbrochen.

„Mey war einer der eifrigsten Flugschüler, die wir je hatten“, sagt Gerd Grimm, Jahrgang 1937, langjähriger Vorstand der Motorfluggruppe Wilhelmshaven-Friesland e. V. Die Wolken, die Mey besingt, sind genau diese Wolken über Wilhelmshaven. Hier steht auch die sagenumwobene → Luftaufsichtsbaracke und immer noch kocht irgendjemand Kaffee. Jeder gute Song braucht Inspiration. Bei Taylor Swift sind es gescheiterte Beziehungen, bei Reinhard Mey ist es das kribbelnde Gefühl zwei Kilometer über dem Erdboden.

Über den Wolken ist die Hymne aller Flieger in Deutschland, sagen die Piloten vom Jade-Weser → Airport. Bei jeder Flieger-Party in Mariensiel wird das Lied gespielt, mitgesungen, mitgeschunkelt. Es gibt ein Plattencover von der Single, da ist sogar das Leitwerk eines Kranich-Fliegers zu sehen. Dabei ist es nur vordergründig ein Fliegerlied, in Wahrheit ist es natürlich eine Freiheitshymne. Die populärste, die wir haben. Da aber heute jeder seinen eigenen Freiheitsbegriff pflegt, wäre es angeraten, den Text vielleicht als Pflichtlektüre in den Schulen durchzunehmen.

Nur „über“ den Wolken ist die Freiheit wohl grenzenlos, singt Mey. Unten auf Erden endet sie dort, wo die Freiheit des Gegenübers beginnt. Und die Flieger wissen genau: so frei wie dort oben fühlen wir uns nirgendwo sonst. Es ist die ganz eigene Thermik dieses Liedes, die uns alle erhebt – Flieger oder nicht!

Reinhard Meys Lied ist auch deshalb noch so spannend, weil es längst eine identitätsstiftende Bedeutung erlangt hat. Jeder kennt es, jeder kann es singen, summen, bei jedem klickt was, wenn der Titel fällt. Es ist kollektives Gedächtnis, nationale Identität, einer der wenigen gemeinsamen Nenner unseres Landes. Eine Art kulturelles Kfz-Kennzeichen für Deutschland (→ Zwölf Millionen). Fragt man die Künstliche Intelligenz,........

© der Freitag


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