Pünktlich zur Jahreswende ist alles noch einmal einen Zacken beschissener geworden. Ich habe mir deshalb für dieses Jahr vorgenommen, meine Perspektive ein bisschen zu ändern. Ich will die rapiden, drastischen und radikalen Veränderungsprozesse, die unsere Gesellschaft jetzt auch so erfassen, wie das in anderen reichen Ländern schon seit 2016, dem Jahr der Brexit- und Trump-Wahl, der Fall ist, aus der Perspektive queerer Erfahrungen betrachten. Und damit für mich einen etwas anderen Blick auf die Gegenwartstransformationen entwickeln, als wir ihn sonst mehrheitlich einnehmen.

Case in point: die „Bauernproteste“. Während ich das am Montag, dem 8. Januar, schreibe, sind die ersten Autobahnauffahrten durch Trecker blockiert, und an der Berliner Siegessäule – anstatt dass dort wie sonst üblich, die letzten Reste der Schöneberger Partynacht durch die Bäume und Klappen stromern – sammeln sich Bauern und Bäuer*innen zum angekündigten Mittagsprotest bei (angeblich) alkoholfreiem Glühwein. Was diese Woche auf den Straßen Deutschlands an Bauernprotesten sichtbar wird, wird die Republik verändern, und zwar: nach rechts verschieben.

Was passiert da eigentlich gerade, und warum? Wenn wir den offiziellen Verlautbarungen der Bauernverbände Glauben schenken, dann geht es – was irgendwie auch nachvollziehbar erscheint – darum, dass die Bäuer*innen ökonomisch mit dem Rücken zur Wand stehen und die ach-so klimaideologischen Moves der Ampel ihnen vollends den Garaus machen würden. Allein: den deutschen Agrarbetrieben geht es zurzeit eigentlich ziemlich gut: Sie konnten die steigenden Preise an uns Konsument*innen weitergeben.

Warum also all die Wut, der unbedingte Wille (und die Bereitschaft), zu kämpfen, bis die Ampel alle ihre Subventionskürzungspläne zurückgenommen hat?

Weil es nicht um ökonomische Interessen im engeren Sinne geht, sondern um etwas, das wir Queers sehr gut wiedererkennen: Es geht um Scham, um das Gefühl, entweder richtig oder falsch zu sein, als Subjekt von der Gesellschaft anerkannt oder abgelehnt zu werden. Bisher sah die Gesellschaft Bäuer*innen gerne als stille Held*innen, als diejenigen, die das Land satt und glücklich halten. Das haben die Landwirt*innen ein bisschen mit den Kohlearbeitern gemein, die lange im Clinch mit der Antikohlebewegung lagen. Sie sahen sich als die Guten, die das Land am Laufen und warm hielten, und plötzlich kamen wir „Klimas“, und vermittelten ihnen: Ihr seid jetzt schlecht, Ihr seid jetzt böse, was Ihr macht, wie Ihr seid, ist falsch.

Die über Jahrzehnte gewachsenen chemie- und tierleidintensiven Produktionsprozesse, welche die absurd niedrigen Discounterpreise hierzulande ermöglichen, sind nicht Resultat individueller Entscheidungen böser Landwirte, sondern drücken sich über Marktzwänge auf. Aus ihrer Perspektive treffen die Bäuer*innen also nur die notwendigen Entscheidungen, um weiterzumachen und weiter „die Republik zu füttern“. Das kann doch unmöglich schlecht sein, und jetzt kommen diese Linksgrünversifften und wollen das alles kaputt machen.

Und an dem Punkt könnten wir Queers vielleicht sogar ein bisschen mehr Mitgefühl mit den Bäuer*innen haben: Denn das Gefühl, von der Gesellschaft abgelehnt zu werden, das kennen wir gut. Stellt sich die Frage: Was können wir aus unseren eigenen Erfahrungen über diesen Konflikt lernen und ableiten, was kann die Gesellschaft von uns lernen? Denn dieser Konflikt wird nur sehr, sehr schwer durch rationale Konzessionen zu lösen sein.

Scham, die das ganze Subjekt und nicht nur einzelne Handlungen infrage stellt, ist schwer ökonomisch-rational aufzuwiegen. Die Lektion aus queeren Erfahrungen der Vergangenheit ist also: Dieser Kampf wird erst einmal weitergehen. Und es geht hier nicht um Subventionen – es geht um Normalitäten. Um Normalitäten, die einander ausschließen. Das ist gefährlich. Für uns alle – und für uns Queers im Besonderen.

QOSHE - Kolumne | Bauernproteste queer gelesen: Die Scham der Abgelehnten - Tadzio Müller
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Kolumne | Bauernproteste queer gelesen: Die Scham der Abgelehnten

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08.01.2024

Pünktlich zur Jahreswende ist alles noch einmal einen Zacken beschissener geworden. Ich habe mir deshalb für dieses Jahr vorgenommen, meine Perspektive ein bisschen zu ändern. Ich will die rapiden, drastischen und radikalen Veränderungsprozesse, die unsere Gesellschaft jetzt auch so erfassen, wie das in anderen reichen Ländern schon seit 2016, dem Jahr der Brexit- und Trump-Wahl, der Fall ist, aus der Perspektive queerer Erfahrungen betrachten. Und damit für mich einen etwas anderen Blick auf die Gegenwartstransformationen entwickeln, als wir ihn sonst mehrheitlich einnehmen.

Case in point: die „Bauernproteste“. Während ich das am Montag, dem 8. Januar, schreibe, sind die ersten Autobahnauffahrten durch Trecker blockiert, und an der Berliner Siegessäule – anstatt dass dort wie sonst üblich, die letzten Reste der Schöneberger Partynacht durch die Bäume und Klappen stromern – sammeln sich Bauern und Bäuer*innen zum angekündigten........

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