„Das Erwartbare ist geschehen“, kommentiert die sächsische Linken-Landtagsabgeordnete Kerstin Köditz den Erfolg des AfD-Kandidaten Tim Lochner beim zweiten Wahlgang der Oberbürgermeisterwahlen in Pirna. Es hätte in jedem anderen sächsischen Landkreis ebenso geschehen können, setzt die Sprecherin für antifaschistische Politik noch eins drauf.

Angesichts der symbolischen Aufladung von AfD-Kandidaturen bei Wahlen um kommunale Spitzenämter mutet der Hinweis schon fast zynisch an, dass deren persönliche Ergebnisse „nur“ mit den Umfragewerten ihrer Partei korrespondieren. Aber es stimmt. Bundesweit will derzeit jeder Vierte die AfD wählen. In den Ostländern ist es jeder Dritte.

Diese erschreckende Popularität schlug sich bislang noch kaum in Erfolgen bei Personalwahlen nieder. Der Pirnaer Tischlermeister Tim Lochner erreichte nun im ersten Wahlgang 33 Prozent und am vergangenen Sonntag die 38,5 Prozent, die ihn zum Oberbürgermeister machten.

Schon lange nimmt die AfD Anlauf zum Sprung auf einen Landrats- oder Oberbürgermeisterposten. Im thüringischen Gera scheiterte Dieter Laudenbach 2018 noch deutlich. Im Juni dieses Jahres gelang der angestrebte Dammbruch dann, als Robert Sesselmann ins Sonneberger Landratsamt einzog – in einem der skurrilen Thüringer Mikro-Landkreise, der kaum mehr Einwohner hat als die Kreisstadt Pirna mit 40 000. Einen Monat später wurde Hannes Loth im Sachsen-Anhaltischen Raguhn-Jeßnitz Bürgermeister. Im Brandenburger Landkreis Dahme-Spreewald klappte es im November nicht mit einem Landrat. In Nordhausen und Bitterfeld scheiterten die OB-Kandidaten der AfD ebenfalls in den zweiten Wahlgängen.

Wer sich beruhigen will, sieht also im Osten die Demokraten 4:3 in Führung. Verharmlost werden kann damit aber nichts. Dem steht allein schon die alarmierende Beobachtung entgegen, dass die Wähler auf die rechtsextreme Einstufung der AfD in den mitteldeutschen Bundesländern pfeifen. In Sachsen tat es der Verfassungsschutz erst eine Woche vor der Pirnaer Wahl, der übliche Erkenntnisverzug hierzulande. Das Wahlergebnis unterstreicht dann die empirische Beobachtung, dass die AfD nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer neofaschistischen Haltungen gewählt wird.

Es wäre aber zu billig, nun die Wähler in Pirna am Tor zur Sächsischen Schweiz als blaubraun zu denunzieren. Auch wenn hier die inzwischen verbotene kriminelle Vereinigung „Skinheads Sächsische Schweiz“ zu Hause war und ist, in Reinhardtsdorf-Schöna jeder Vierte NPD wählte und die frühere AfD-Bundesvorsitzende Frauke Petry hier ihren Bundestagswahlkreis aussuchte.

Pirna steht nicht allein, sondern für einen Trend der Trotzreaktionen auf eine als fern und entfremdet erscheinende Politik. Der Deutsche Städtetag konstatiert einmal mehr einen „Riss durch unsere Gesellschaft“. Marie Müser, Landesparteichefin der sächsischen Bündnisgrünen, räumte am Wahlabend ein, „dass demokratische Parteien, natürlich auch wir Grüne, zu viele Menschen aktuell nicht erreichen“. Das muss nicht Anbiederung an das „gesunde Volksempfinden“ bedeuten. Aber einen Appell, Menschen möglichst dort abzuholen, wohin sie ihre Gemütsverfassung getrieben hat und damit den AfD-Suggestionen wieder zu entziehen. Leicht ist das nicht, aber eines kann man sicher sagen: Die Verteuerung von Tank- und Heizstoff für alle und die Streichung von Subventionen für Landwirte holt absolut niemanden ab.

Kurzfristig sind für das Wahljahr 2024 auch taktische Analysen des Umgangs mit AfD-Kandidaturen wichtig. Anders als in Sonneberg waren die demokratischen Kräfte in Nordhausen oder Bitterfeld auch deshalb erfolgreich, weil sie die AfD-Kandidaten nicht dämonisierten und keine Einheitsfront zur Vermeidung des Weltuntergangs beschworen. Klare Kante zeigen, sich zusammenschließen, aber zugleich mündigen Wählern vertrauen.

Mindestens fahrlässig wirkt wiederum die häufig von Bürgern zu hörende Entzauberungsthese. „Lasst die doch mal probeweise regieren, die werden sich schon selbst demontieren!“ Robert Sesselmann in Sonneberg oder Hannes Loth in Raguhn-Jeßnitz sind tatsächlich längst von nüchternen Zwängen und der Einbindung in Ratsentscheidungen domestiziert worden. Aber Vorsicht, so leichtsinnig haben viel zu viele Deutsche zu Beginn der 1930-er Jahre auch einmal über die NSDAP gedacht.

Ein Pferdefuß der von Sachsen übernommenen süddeutschen Ratsverfassung verdient schließlich noch taktische Beachtung. In Thüringen oder Sachsen-Anhalt kam es zu echten Stichwahlen in den zweiten Wahlgängen. Nur die beiden Bestplatzierten traten nochmals an, der jeweilige AfD-Kontrahent genoss dann breite Unterstützung. In Sachsen dürfen hingegen alle Kandidaten erneut antreten, quasi zu einer Neuwahl. Wenn dann wie in Pirna CDU und Freie Wähler nicht zugunsten einer Verhinderungsallianz über den Schatten ihrer Eitelkeiten springen und zurückziehen können, öffnen sie AfD-Kandidaten die Rathaustür.

QOSHE - Meinung | AfD-Kandidat Tim Lochner gewinnt Oberbürgermeisterwahl: Aus Pirna lernen - Michael Bartsch
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Meinung | AfD-Kandidat Tim Lochner gewinnt Oberbürgermeisterwahl: Aus Pirna lernen

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19.12.2023

„Das Erwartbare ist geschehen“, kommentiert die sächsische Linken-Landtagsabgeordnete Kerstin Köditz den Erfolg des AfD-Kandidaten Tim Lochner beim zweiten Wahlgang der Oberbürgermeisterwahlen in Pirna. Es hätte in jedem anderen sächsischen Landkreis ebenso geschehen können, setzt die Sprecherin für antifaschistische Politik noch eins drauf.

Angesichts der symbolischen Aufladung von AfD-Kandidaturen bei Wahlen um kommunale Spitzenämter mutet der Hinweis schon fast zynisch an, dass deren persönliche Ergebnisse „nur“ mit den Umfragewerten ihrer Partei korrespondieren. Aber es stimmt. Bundesweit will derzeit jeder Vierte die AfD wählen. In den Ostländern ist es jeder Dritte.

Diese erschreckende Popularität schlug sich bislang noch kaum in Erfolgen bei Personalwahlen nieder. Der Pirnaer Tischlermeister Tim Lochner erreichte nun im ersten Wahlgang 33 Prozent und am vergangenen Sonntag die 38,5 Prozent, die ihn zum Oberbürgermeister machten.

Schon lange nimmt die AfD Anlauf zum Sprung auf einen Landrats- oder Oberbürgermeisterposten. Im thüringischen Gera scheiterte Dieter Laudenbach 2018 noch deutlich. Im Juni dieses Jahres gelang der angestrebte Dammbruch dann, als Robert Sesselmann........

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