Schon der Titel der umfänglichen Analyse eines führenden deutschen Thinktanks, der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), vom Dezember 2023 lässt keinen Zweifel: Preparing for a longer war ist der Text von Stefan Meister, András Rácz und Judith Heckenthaler überschrieben. Die Autoren konstatieren ein militärisches „Patt“ zwischen Russland und der Ukraine. Daraus wird abgeleitet, es sei jetzt für die Regierung in Kiew „nicht die Zeit, den Krieg zu beenden“. Begründung: Diese Lage könne „langfristig in die Hände Russlands spielen“. Man plädiert daher für weiteren massiven militärischen Beistand.

Zugleich räumen die DGAP-Autoren ein, es sei im Jahr 2024 „kaum realistisch, einen groß angelegten ukrainischen Durchbruch zu erwarten“. Russland habe seine Rüstungsproduktion verdreifacht. „Kurzfristig und mittelfristig“, so die Analyse, gäbe es dort „keine ernsthaften politischen oder sozialen Herausforderungen für eine Regime-Stabilität“. Die DGAP-Experten warnen, Russland könne noch „weit mehr Ressourcen an Menschen und Wirtschaft mobilisieren“. Zugleich benennen sie Schwachpunkte der Ukraine. Eine „zentrale Herausforderung“ bleibe das Agieren „von alten und neuen Oligarchen“.

Problematisch sei zudem, dass die dortige Ökonomie in Kriegszeiten „keine Entscheidungen über Investitionen“ treffe. Die Verfasser versichern, „für die ukrainische Gesellschaft“ sei „jede Waffenstillstandsvereinbarung, die Russlands Gewinne bestätigt, inakzeptabel“. Das „Endziel für die Ukrainer“ sei es, „Russland von ukrainischem Territorium, einschließlich der Krim, zu vertreiben“. Zugleich zitieren sie eine Umfrage, nach der sich 51 Prozent der Befragten ein Kriegsende „nur mit einem Sieg“ wünschen, während 36 Prozent bereit sind, „begrenzte Kompromisse“ zu machen. Damit konzedieren die DGAP-Autoren, dass die von ihnen implizit behauptete Bereitschaft „der“ Ukraine, einen langfristigen Krieg gegen Russland mit der Option eines „Sieges“ zu führen, keineswegs von der gesamten Gesellschaft getragen wird. Jede Analyse ukrainischer Umfragedaten müsste bedenken, dass Kriegsgegner nur sehr eingeschränkt ihre Meinung äußern können. In der Ukraine hat die Regierung sämtliche Fernsehkanäle unter staatliche Kontrolle gestellt, dazu wurden elf oppositionelle Parteien strikt verboten.

Die DGAP-Analytiker, deren Arbeit von der Bundesregierung subventioniert wird, verzichten darauf, die Risiken eines langen Krieges für die Ukraine abzuwägen, obwohl der fatale Auswirkungen auf die Bevölkerung hätte. So urteilte Switlana Aksjonowa, eine der führenden Wissenschaftlerinnen am Kiewer Ptucha-Institut für Demografie und Sozialstudien der Nationalen Akademie der Wissenschaften, im Oktober 2023 gegenüber n-tv.de: „Die demografische Situation im Land verschlimmert sich rapide.“ Die Geburtenrate sei bereits vor der Invasion Russlands „die niedrigste unter allen europäischen Ländern gewesen“. Viele Frauen in der Ukraine hielten es für „unverantwortlich“, im Krieg Kinder zu bekommen. Der Tod junger Männer wirke sich natürlich demografisch negativ aus. Nicht übersehen dürfe man zudem die sinkende Zuversicht geflüchteter Ukrainer, in ihr Land zurückzukehren. Die Heimkehrhoffnung sinke umso mehr, je länger der Krieg dauere. Das Ergebnis, so Aksjonowa, sei eine rasch alternde Bevölkerung.

Vertreter eines langen Krieges aber ficht das nicht an. Im FAZ-Feuilleton wirft der Münchner Historiker Martin Schulze Wessel am 2. Januar der Bundesregierung vor, sie habe die Neigung, „der Ukraine nicht zum Sieg zu verhelfen, sondern den Krieg irgendwie einhegen zu wollen“. Die Frage, welche Folgen ein nicht eingehegter Krieg in der Ukraine hätte, diskutiert der Professor nicht. Dabei ist offenkundig, dass jeder mit westlichen Waffen unternommene Versuch, etwa die Krim zum Schlachtfeld zu machen, rasch zu einer Eskalation in zweifacher Hinsicht führen dürfte. Große Teile der Bevölkerung der seit 2014 von der Russischen Föderation annektierten Halbinsel würden zu Flüchtlingen. Und die russische Führung dürfte nach Optionen suchen, sich an den Waffenlieferanten zu rächen – auch mit taktischen Kernwaffen?

Eher verschämt reflektieren die DGAP-Analysten das Risiko eines langen Krieges: „Die Ukraine und ihre westlichen Unterstützer müssen definieren und abstimmen, wie ein Sieg aussehen sollte und welche Art von Unterstützung die Ukraine braucht, um dieses Ziel zu erreichen.“ Dabei zeigen die Konflikte zwischen der EU und Ungarn, dass es dazu keinen Konsens gibt. Daher wirkt jeder Versuch, auf einen langen Krieg zu setzen, kontraproduktiv: Er spaltet die Europäische Union, die Aussicht auf einen „Sieg“ in der immer mehr zerstörten Ukraine wird zur Schimäre.

QOSHE - Ausblick | Verlängerter Krieg in der Ukraine: DGAP-Analyse ignoriert Risiken für die Bevölkerung - Gerd Meißner
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Ausblick | Verlängerter Krieg in der Ukraine: DGAP-Analyse ignoriert Risiken für die Bevölkerung

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09.01.2024

Schon der Titel der umfänglichen Analyse eines führenden deutschen Thinktanks, der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), vom Dezember 2023 lässt keinen Zweifel: Preparing for a longer war ist der Text von Stefan Meister, András Rácz und Judith Heckenthaler überschrieben. Die Autoren konstatieren ein militärisches „Patt“ zwischen Russland und der Ukraine. Daraus wird abgeleitet, es sei jetzt für die Regierung in Kiew „nicht die Zeit, den Krieg zu beenden“. Begründung: Diese Lage könne „langfristig in die Hände Russlands spielen“. Man plädiert daher für weiteren massiven militärischen Beistand.

Zugleich räumen die DGAP-Autoren ein, es sei im Jahr 2024 „kaum realistisch, einen groß angelegten ukrainischen Durchbruch zu erwarten“. Russland habe seine Rüstungsproduktion verdreifacht. „Kurzfristig und mittelfristig“, so die Analyse, gäbe es dort „keine ernsthaften politischen oder sozialen Herausforderungen für eine Regime-Stabilität“. Die DGAP-Experten warnen, Russland könne noch „weit mehr Ressourcen an Menschen und Wirtschaft mobilisieren“. Zugleich benennen sie Schwachpunkte der Ukraine. Eine „zentrale Herausforderung“........

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