Für Moskauer der reiferen Jahrgänge sind die Bilder von der brennenden Konzerthalle „Crocus City Hall“ am Rande der russischen Hauptstadt ein bitteres Déjà-vu. Mindestens 60 Tote und 150 Verletzte meldet inzwischen der Föderale Sicherheitsdienst (Federalnaja sluschba besopasnosti Rossijskoi Federazii/FSB), nachdem mindestens vier Angreifer aus Schnellfeuerwaffen minutenlang auf Besucher eines Konzertes der russischen Rockgruppe „Picknick“ geschossen hatten. Die Terrorattacke weckte Erinnerungen an die Zeit vor mehr als zwanzig Jahren, als Anschläge auf Konzerte, Theater und die Moskauer Metro hunderte von Menschenleben forderten.

Dutzende von Krankenwagen und zahlreiche Hubschrauber waren vor der „Crocus City Hall“ stundenlang im Einsatz, um schwer Verletzte in die Operationssäle der umliegenden Krankenhäuser zu bringen. Konzerte, Museen, Kinos, Ausstellungen – alles, was es an diesem Wochenende an Veranstaltungen im Moskauer Großraum und in anderen Regionen geben sollte – ist abgesagt. Offenkundig werden weitere Anschläge befürchtet.

Das russische Staatsfernsehen bemühte sich in einer Sondersendung am Freitagabend, mit Korrespondenten vor Ort die gute Organisation des Gesundheitswesens zu zeigen. Auch die Staatsführung signalisierte, der Präsident habe die Lage nach dem Anschlag voll unter Kontrolle. Wladimir Putin, so sein Pressesprecher Dmitri Peskow, sei bereits „in den ersten Minuten“ über das Geschehen informiert worden. Der Staatschef erhalte „ständig“ weitere Informationen zur Lage und habe „alle nötigen Weisungen“ erteilt. Die demonstrative Entschlossenheit kann jedoch nur notdürftig verhüllen, dass es den seit mehr als zwei Jahrzehnten erheblich verstärkten russischen Geheimdiensten nicht gelungen ist, ein solches Blutbad zu verhindern. Dabei ist gerade der FSB wie keine andere Struktur des Sicherheitsapparates auf Antiterror-Prävention ausgerichtet.

Erst vor drei Tagen hatte Wladimir Putin auf einer Sitzung des Kollegiums, des Führungsstabes des FSB, in dessen legendärer Zentrale, der Lubjanka, auch über die terroristische Bedrohung gesprochen. Dabei bezeichnete er Warnungen von US-Diensten vor drohenden Terroranschlägen in Russland als „provokatorische Erklärungen einer Reihe westlicher Strukturen“. Dies erinnere ihn an „offene Erpressung“, es künde von der „Absicht zu erschrecken und unsere Gesellschaft zu destabilisieren“. Zugleich bat der Präsident den FSB, „ernsthaft die antiterroristische Arbeit in allen Richtungen zu verstärken.“ Er kam auch auf den Anschlag gegen die Nordstream-Pipeline zurück, den die russischen Geheimdienste den „Angelsachsen“ und ihren staatlichen Diensten zuschreiben. „Terroristischer Methoden“ bezichtigte Putin vor der FSB-Führungsriege auch das „Kiewer Regime“.

Zwar hat die russische Staatsführung bislang noch nicht den Verdacht geäußert, ukrainische Geheimdienste könnten hinter dem Anschlag stecken. Doch orakelte Ex-Präsident Dmitri Medwedew, stellvertretender Vorsitzender des Sicherheitsrates und Mann fürs Grobe, schon bald nach den Horrorszenen aus der „Crocus City Hall“, sollte sich herausstellen, dass „Terroristen des Kiewer Regimes“ hinter dem Anschlag stehen, dann müssten sie „vernichtet“ werden, „einschließlich offizieller Personen des Staates, der solche Taten begangen hat“.

Kiew hat zwar durch den Einsatz russischer rechtsextremer Söldner bei Angriffen auf zivile Objekte in Russland, etwa in der Nähe von Belgorod, Aktionen zu verantworten, die in der russischen Öffentlichkeit als terroristisch gedeutet werden. Doch passt ein solcher Anschlag wie auf den Moskauer Konzertsaal kaum zur bisherigen ukrainischen Taktik. Die Handschrift der Täter erinnert eher an den Angriff tschetschenischer Islamisten auf das Musical-Theater „Nordost“ in Moskau am 23. Oktober 2002 und auf eine Schule im nordkaukasischen Beslan am 1. September 2004. Die Tat weckt auch Erinnerungen an die Bluttaten von Terroristen des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS) in Paris am 13. November 2015, begangen unter anderem gegen den Musikklub „Bataclan“. Gemeinsam war all diesen Verbrechen das hemmungslose Vorgehen gegen eine große Zahl von unbewaffneten Zivilisten.

Womöglich wäre es an der Zeit, sowohl in Moskau als auch in westlichen Hauptstädten jenseits aller Konflikte um die Ukraine die Zusammenarbeit der Geheimdienste gegen den internationalen Terrorismus wieder aufzunehmen. Dieses Zusammenwirken hatte einst in den 1990 Jahren begonnen, als Antiterror-Experten des sowjetischen Geheimdienstes KGB Nachhilfestunden bei ihren Kollegen in der CIA-Zentrale in Langley nahmen. Noch Jahre danach lud ein inzwischen verstorbener Moskauer Terrorismus-Bekämpfer aus dem einstigen KGB Veteranen der CIA zum Erfahrungsaustausch beim Tee in sein Büro am Roten Platz. Daraus entwickelte sich eine Kooperation im Stillen, die nach dem 11. September 2001 in den USA über Jahre fortgesetzt wurde, bis der neue Kalte Krieg ihr ein Ende bereitete.

QOSHE - Angriff auf Russland | Anschlag in Moskau: Erinnerungen an das Attentat auf das Theater „Nordost“ werden wach - Gerd Meißner
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Angriff auf Russland | Anschlag in Moskau: Erinnerungen an das Attentat auf das Theater „Nordost“ werden wach

8 0
23.03.2024

Für Moskauer der reiferen Jahrgänge sind die Bilder von der brennenden Konzerthalle „Crocus City Hall“ am Rande der russischen Hauptstadt ein bitteres Déjà-vu. Mindestens 60 Tote und 150 Verletzte meldet inzwischen der Föderale Sicherheitsdienst (Federalnaja sluschba besopasnosti Rossijskoi Federazii/FSB), nachdem mindestens vier Angreifer aus Schnellfeuerwaffen minutenlang auf Besucher eines Konzertes der russischen Rockgruppe „Picknick“ geschossen hatten. Die Terrorattacke weckte Erinnerungen an die Zeit vor mehr als zwanzig Jahren, als Anschläge auf Konzerte, Theater und die Moskauer Metro hunderte von Menschenleben forderten.

Dutzende von Krankenwagen und zahlreiche Hubschrauber waren vor der „Crocus City Hall“ stundenlang im Einsatz, um schwer Verletzte in die Operationssäle der umliegenden Krankenhäuser zu bringen. Konzerte, Museen, Kinos, Ausstellungen – alles, was es an diesem Wochenende an Veranstaltungen im Moskauer Großraum und in anderen Regionen geben sollte – ist abgesagt. Offenkundig werden weitere Anschläge befürchtet.

Das russische Staatsfernsehen bemühte sich in einer Sondersendung am Freitagabend, mit Korrespondenten vor Ort die gute Organisation des Gesundheitswesens zu zeigen. Auch........

© der Freitag


Get it on Google Play