Natürlich guckt man zuerst nach dem Ohr. Ist es noch dran? Schließlich ist es ein Van Gogh. Der Bildungsbürger weiß, dass das Halbprofil auf dem „Selbstporträt mit hellem Filzhut vor kreisförmig bewegtem Hintergrund“ (Winter 1887/88) zwar scheinbar die linke Seite zeigt, aber das Malergenie pflegte seine Selbstporträts mittels Spiegel anzufertigen, wir sehen also das rechte Ohr. Im Streit mit Paul Gauguin abgeschnitten und seiner Lieblingsprostituierten Rachel ausgehändigt hatte er sein linkes.

Dank der Künstlerin Knetkowski, die eigentlich Linda Jakobsen heißt, gibt es das besagte, typisch gestrichelte Porträt nun in drei Dimensionen, es steht auf dem Küchentisch in Knetkowskis Hinterhofwohnung in Prenzlauer Berg. Wir dürfen es bei unserem Besuch kurz vor der Ausstellungseröffnung in der Galerie Erstererster sogar anfassen und ein bisschen drehen. Das Ohr ist dran und intakt. Das hat auch seine Richtigkeit, denn der Streit eskalierte erst einen Winter später. Aber wenn man sich in Vincents Blick versenkt, ahnt man etwas von seiner aufgerissenen Seele und dem angestauten Schmerz.

Knetkowski hat bei einem Besuch im Spielzeugladen die Knete, mit der sie sich als Kind gern beschäftigte, wiederentdeckt. Es habe sofort gefunkt, wie bei einer Liebe auf den ersten Blick. Da war sie Anfang zwanzig, was jetzt wiederum fast zwanzig Jahre her ist. Sie kaufte sich eine Packung, modellierte aus einer Laune heraus ihren damaligen Lieblingssänger Morrissey und erntete Bewunderung für die Lebensechtheit des The-Smiths-Frontmanns. Es folgten weitere Stars en miniature, Berliner Prominente an ihren Lieblingsorten. Knetkowski fotografierte sie aus jeweils zwei Perspektiven.

13.03.2024

•gestern

13.03.2024

13.03.2024

•gestern

Einmal, von nahem fotografiert, erscheint Harald Juhnke wie in Lebensgröße vor seiner Stammkneipe; einmal, aus Augenhöhe aufgenommen, verliert sich die kleine Figur wie ein vergessenes, kaum bordsteinhohes Püppchen auf dem Straßenpflaster. Nina Hagen auf dem Alex, Christoph Schlingensief vor der Volksbühne, Dr. Motte vor der Goldenen Else, Angela Merkel vor der Mauer, Hildegard Knef auf dem Breitscheidplatz, Sven Marquardt vor der härtesten Tür Berlins. Der schöne, 2015 beim Mitteldeutschen Verlag erschienene Bildband ist leider vergriffen. Schade, es ist ein originelles Berlin-Geschenkbuch. In der Ausstellung werden Arbeiten daraus zu sehen sein.

Der kleine Schlingensief steht bei unserem Besuch neben Angela Merkel auch auf dem Küchentisch, ich darf sogar an ihm riechen. Es stinkt wie früher. Was mögen das für organische Verbindungen sein, die über Jahre hinweg ihren Geruch verströmen? Kein Wunder, dass Christoph und Angela ziemlich gelb sind. Aber nein, um die Hautfarbe hat sich Knetkowski bei der Werkserie von Berlin-Promis keine Gedanken gemacht, weil sie die Figuren ja ohnehin in Schwarzweiß fotografierte.

Bei Van Gogh und Knetkowskis in den letzten Jahren, vor allem während der Corona-Lockdowns geschaffenen Figuren ist die Farbe so wichtig wie die Form. Letztlich hat die Künstlerin nun den Vorgang umgedreht: 2014 formte sie Menschen aus der 3D-Welt ab und gab sie als 2D-Fotos wieder, jetzt wählt sie Figuren aus berühmten Gemälden und gibt ihnen eine räumliche Gestalt. Dabei ist Modellieren und Farbgestaltung, anders als bei der Verarbeitung etwa von Ton, ein und derselbe Vorgang.

Die Knete gibt es in allen erdenklichen Farben, Knetkowski mischt sie, während sie sie mit der Spitze eines kleinen Küchenmessers aufträgt. Es ist von Anfang an dasselbe Messer, ein herkömmliches und bescheidenes Küchengerät, das zu ihrem etwas unprätentiösen Werkstoff passt. Die Knete, die sie heute verwendet, ist dieselbe wie die, aus der Shaun, das Schaf, und die ganze Aardman-Animations-Welt modelliert wird. Sie stinkt nicht und wird relativ fest mit der Weile, leider wird das Produkt nicht mehr hergestellt, gegen die KI-generierten Wesen in neueren Animationsfilmen haben die handgekneteten kaum eine Chance.

In der Anmutung ist die Oberfläche der Knetkowski-Figuren der von Ölgemälden nicht unähnlich, man meint sogar die Originalpatina zu sehen. Es scheint wirklich so, als seien die Figuren aus Pinselstrichen zusammengesetzt und in unsere Welt gestiegen. Dass das reale Licht auf ihnen spielt und sich Schatten der Wirklichkeit auf sie legen, und dass man um ihre Verformbarkeit weiß, gibt ihnen eine andere Lebendigkeit.

Knetkowski sucht nicht lange nach einem kunsttheoretischen Überbau oder handelsüblichen Abbildkonzepten für ihre Werke, sie hält sich ohnehin unabhängig von den Kunstmarktgepflogenheiten. Gut, dass sie sich nicht mit ihrer Kunst finanzieren muss, das übernimmt Linda, ihr bürgerliches Alias, dessen Privat- und Berufsleben nichts zur Sache tun sollen. Linda sei auch zu introvertiert für ein Interview mit der Presse.

Bilder, die an Tschernobyl erinnern: Wer ist der Berliner Maler Christian Thoelke?

14.05.2023

Gerettet vor Putins Raketen: Alte Meister aus Odessa in der Berliner Gemäldegalerie

18.02.2024

Vielleicht ist es auch diese Unabhängigkeit, die ihren Werken ein Eigenleben einhaucht. Knetkowski arbeitet mit offener Seele, sie habe immer mal wieder weinen müssen, als unter ihren Händen die Figuren erstanden. Man merkt es ihnen an, sie geben den Blick zurück und treten einem wie alte Freunde gegenüber – denn sie sind uns ja sehr vertraut.

Es wird wenige geben, die sich so intensiv wie Knetkowski in die Originalkunstwerke versenkt haben. Klar kommt es dann zu einem unbewussten Dialog mit dem Künstler, der schon tot ist – mindestens 70 Jahre, denn erst dann ist das Werk gemeinfrei. Es stehen auch ein paar geknetete Picassos in der Küche herum, die den Originalen so ähnlich sind, dass sich Urheberrechtsfragen stellen und sie wohl noch zwanzig Jahre warten müssen, bis sie gezeigt werden.

Die Rembrandts, Vermeers, Da Vincis und eben Van Goghs können dagegen bedenkenlos öffentlich ausgestellt werden, wie es jetzt in der Pankower Galerie Erstererster der Fall ist. Früher hat Knetkowski ihre Figuren eher in Kneipen gezeigt, wo sie es geselliger hatten. Dass sie jetzt das Debüt in der gehobenen Galeriewelt wagt, ist eher ihrer Neugier geschuldet. Mal sehen, wie die Figuren in diesem Kontext wahrgenommen werden. Ob sie verkäuflich sind, ist noch nicht entschieden. Es ist absolut denkbar, dass sich Sammler dafür interessieren. Wer hätte nicht gern die Mona Lisa im Verzeichnis? Knetkowski beginnt darüber nachzudenken, sich von einigen ihrer kleinen Mitbewohner zu trennen. Es wird langsam eng in der Promi-WG im Hinterhof.

Knetkowski präsentiert: Meisterwerke von Rembrandt bis van Gogh als Knetfiguren. 21. März, 18 Uhr Vernissage, Öffnungszeiten 22.–24. März, 14–20 Uhr in der Galerie Erstererster in der Pappelallee 69. Informationen unter erstererster.de und knetkowski.com

QOSHE - Van Gogh, Merkel, Morrissey: Die Berliner Künstlerin Knetkowski erweckt Meisterwerke mit Kinderknete zum Leben - Ulrich Seidler
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Van Gogh, Merkel, Morrissey: Die Berliner Künstlerin Knetkowski erweckt Meisterwerke mit Kinderknete zum Leben

6 1
15.03.2024

Natürlich guckt man zuerst nach dem Ohr. Ist es noch dran? Schließlich ist es ein Van Gogh. Der Bildungsbürger weiß, dass das Halbprofil auf dem „Selbstporträt mit hellem Filzhut vor kreisförmig bewegtem Hintergrund“ (Winter 1887/88) zwar scheinbar die linke Seite zeigt, aber das Malergenie pflegte seine Selbstporträts mittels Spiegel anzufertigen, wir sehen also das rechte Ohr. Im Streit mit Paul Gauguin abgeschnitten und seiner Lieblingsprostituierten Rachel ausgehändigt hatte er sein linkes.

Dank der Künstlerin Knetkowski, die eigentlich Linda Jakobsen heißt, gibt es das besagte, typisch gestrichelte Porträt nun in drei Dimensionen, es steht auf dem Küchentisch in Knetkowskis Hinterhofwohnung in Prenzlauer Berg. Wir dürfen es bei unserem Besuch kurz vor der Ausstellungseröffnung in der Galerie Erstererster sogar anfassen und ein bisschen drehen. Das Ohr ist dran und intakt. Das hat auch seine Richtigkeit, denn der Streit eskalierte erst einen Winter später. Aber wenn man sich in Vincents Blick versenkt, ahnt man etwas von seiner aufgerissenen Seele und dem angestauten Schmerz.

Knetkowski hat bei einem Besuch im Spielzeugladen die Knete, mit der sie sich als Kind gern beschäftigte, wiederentdeckt. Es habe sofort gefunkt, wie bei einer Liebe auf den ersten Blick. Da war sie Anfang zwanzig, was jetzt wiederum fast zwanzig Jahre her ist. Sie kaufte sich eine Packung, modellierte aus einer Laune heraus ihren damaligen Lieblingssänger Morrissey und erntete Bewunderung für die Lebensechtheit des The-Smiths-Frontmanns. Es folgten weitere Stars en miniature, Berliner Prominente an ihren Lieblingsorten. Knetkowski fotografierte sie aus jeweils zwei........

© Berliner Zeitung


Get it on Google Play