Ist das Ende nah? Das Ende der Volksbühne? Das Ende von Berlin? Ist der Spaß vorbei? Sind wir erwachsen geworden? Der Schauspieler Alexander Scheer ist eine der Galionsfiguren der Castorf-Zeit – wegen seiner exzessiven Einsätze nicht nur auf der Bühne, sondern auch auf dem Dach des Theaters und natürlich in der Kantine, wo er in einem historischen Moment ein Glas Bier über dem Kopf eines Kulturpolitikers leerte. Er wirkt, als wir ihn im Château Royal in Mitte treffen, überaus vital.

Wir haben uns zum Interview verabredet, um etwas von seiner Zuversicht und Angriffsfreude abzusaugen. Er sitzt in der Sonne, tut sich gütlich an einer Etagere mit Meeresfrüchten im Eisbett und einem beschlagenen Glas Weißwein, später wechseln wir ins Kaminzimmer, in dem es angenehm nach verwehtem Buchenrauch duftet. Direkt vor der Tür parkt sein amerikanischer Wagen, der farblich auf die Garderobe und den Hut abgestimmt zu sein scheint. Die Örtlichkeit hat er vorgeschlagen, der Interviewer schleicht sich unauffällig an.

Herr Scheer, Sie sind doch ein Kind der DDR, warum sind Ihnen teure und schöne Dinge so wichtig?

Ist doch ein netter Laden hier! Mit Ausnahme der beiden Fensterputzer da vorne sind wir wahrscheinlich die beiden einzigen Ost-Berliner hier drin. Ja, es ist teuer hier, aber sehr lecker. Und damit muss man umgehen, statt sich zu verstecken, Herr Seidler. Sie dürfen sich nicht vor den Genüssen des Lebens und des Konsums drücken.

Ich mag diesen Luxus eigentlich nicht. Ich kann auch auf dem Zeltplatz übernachten.

Ganz falsche Einstellung! Man muss zugreifen und Ansagen machen. Berlin ist sonst verloren. Die Leiche ist gefleddert, alles ist ausverkauft. Die Ostler werden aussterben. Wir sind die letzten. Wir müssen raus aus dem Service und rein in die Organisationen und von innen aufmischen. Ich sehe keine andere Chance. Also, rein hier ins Château, Austern abfassen, Fotos im Trainingsanzug, und dann schnell machen, dass wir wieder wegkommen.

Sie werden doch nicht die Zeche prellen wollen!

I wo! Wir haben gelernt und arbeiten mit Bewirtungsbelegen …

An welchem Punkt der Karriere sind Sie denn? Sie sind jetzt mehr als zwanzig Jahre im Geschäft. Ist endlich Erntezeit?

Ja, das haben Sie schön gesagt. Was nicht heißt, dass ich nicht immer wieder säen muss. Aber es ist gerade eine reiche Zeit der Ernte. Schöne Angebote, gute Gagen. Ich muss nichts beweisen und kann entspannt arbeiten.

gestern

•vor 1 Std.

19.04.2024

Was war der Punkt? Ihre Titelrolle in Andreas Dresens „Gundermann“?

Ja. Aber Punkt kann man eigentlich nicht sagen. Davor war „Gladbeck“, das war auch entscheidend. Und natürlich meine Lehrjahre an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Aber „Gundermann“ war sicher der Gamechanger, sowohl was mein Können betraf als auch die Chance, es zu zeigen.

Mir sind als Theaterkritiker ein paar frühere Triumphe wichtiger. Mir fällt „Kean“ ein, 2008. Da haben Sie mich übrigens angelogen und gesagt, dass es das letzte Mal sei, dass Sie für das subventionierte Theater spielen.

Ha! Das war nicht gelogen, das war meine feste Überzeugung! Das war kein Zuckerschlecken. Warum habe ich die Rolle gekriegt? Weil alle anderen die Schnauze voll hatten von Castorf: Hübchen, Wuttke, Peschel, Schütz. Es reichte vielen nach zehn, fünfzehn Jahren.

Und da hat Castorf Sie angerufen.

Ich bin nachgerückt. Berlin hatte die Volksbühne satt damals. Das war eine Talsohle. Wir haben teilweise vor halbleerem Haus gespielt. Dabei waren wir großartig, klar! Im Odeon in Paris haben wir sechs „Kean“-Shows am Stück gespielt, die Leute haben sich um die Plätze gerissen, die standen auf der Treppe. Und dann wieder in Berlin. Da hat das keine Sau interessiert, 120 verlorene Seelen im Parkett, du hast im Monolog die Lichtanlage brummen gehört. Ich hab gesagt, das musst du dir nicht noch einmal antun, dafür zahlen sie dir nicht genug.

Aber dann ging es ja wieder hoch!

Stimmt, dann kam die zweite oder dritte Dostojewski-Welle. Da konnte ich schlecht abhauen.

Alexander Scheer geht in die Theatergeschichte ein als der Typ auf dem Dach der Volksbühne. Sie sprachen Iwan Karamasows Großinquisitor-Monolog und verteufelten die Freiheit, während Bert Neumanns Schriftzug OST abmontiert wurde und davonschwebte. Dem entkommen Sie nicht mehr. Sie sind verbunden mit der Volksbühne, mit dem Ende der Volksbühne, mit dem Ende von Ost-Berlin.

Ja, schade, ich konnte es nicht ungestört genießen, ich musste die zwanzig Minuten Monolog runterballern, bevor ich mir endlich eine Zigarette anmachen und dem Kranhaken hinterhergucken konnte. Das werde ich nicht vergessen, und wenn Sie sagen, dass ich aus der Nummer nicht wieder rauskomme: Dann eben nicht! Kein Bedarf. Ick bleibe. Ich bin Volksschauspieler, meinetwegen auch nur fürs halbe Land.

Keine falsche Bescheidenheit! Vermissen Sie das Theater nicht?

Ich vermisse das Theater. Und manchmal vermisse ich es sehr. In den letzten fünf Jahren hat mich die Volksbühne in meine Träume verfolgt. Ich kämpfte mit Frank, mit vermasselten Gastspielen, mit vergessenen Texten, mit ausufernden Proben. Chaos in der Kantine mit Hendrik Arnst. Ich träumte von Bert, von Kathi, Sophie und Silvia. Was ich wirklich vermisse, ist diese Manege und die totale Freiheit, mit diesen Granaten von Kollegen Jazz zu spielen. Und diese Zeit wird schwer zu toppen sein. Mehr exponieren kann man sich nicht. Deswegen würde ich es erst gar nicht versuchen. Wir lassen jetzt die Legende erst mal weiterwachsen.

Und so lange wird gedreht?

Film ist in Ordnung, der Moment der Freiheit ist ein bisschen kürzer, zwischen Action und Cut liegen manchmal nur ein paar Sekunden. Aber Triumphe sind auch hier möglich, selbst wenn der Spielraum kleiner ist. Das spätere Publikum ist viel größer!

Ich glaube, Sie brauchen das Theater, das Live-Erlebnis, die Verausgabung, um sich zu entfalten.

Ja sicher, ich bin ein Zirkuspferd. Das hole ich mir zurzeit bei Konzerten. Seit „Gundermann“ spielen wir mit Andreas Dresen und Jürgen Ehle, dem Gitarristen von Pankow. Erst wollten wir nur den Film ein bisschen promoten, jetzt sind wir auf einmal im fünften Jahr auf Tour. Auch so was, wo ich nicht mehr rauskomme. Macht großen Spaß und kommt auch im Westen an.

Wenn Sie ein Zirkuspferd sind, brauchen Sie dann auch mal die Peitsche?

Och, eh ich einschlafe ... Früher war das schon in Ordnung. Wir wussten, es nützt dem Abend und da muss man durch. Jetzt bin ich ein bisschen alt für die Peitsche. Frank ist der freundlichste Mensch auf der Welt, aber wehe, du wirst nachlässig auf der Bühne. Dann gnade dir Gott.

Was raten wir dem Kultursenator Joe Chialo? Was soll er machen mit der Volksbühne?

Er muss ins volle Risiko gehen. Leider wird er mit diesem Rat nicht viel anfangen können, weil er wenig Ahnung vom Theater hat.

Er kommt aus dem Musikbusiness wie Tim Renner, der Frank Castorf die Volksbühne weggenommen hat und dem Sie ein Bier über den Kopf geschüttet haben.

Tim wer? Der Name sagt mir nichts. Ich weiß nicht, wer Chialo jetzt berät, aber man kann mit der Volksbühne keine halben Sachen machen. Das Haus ist ein Monster, die Bühne ist größer als der Platz des Himmlischen Friedens, der Schnürboden ist der höchste in Europa, und auf dem Portal steht Volk drauf. Das bedeutet was. Du kannst nicht irgendwas zusammenkaufen und abspielen, wie Dercon es versucht hat.

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Man merkt Ihnen die Kränkung noch an.

Kränkung, pah! Es ist Schmerz. Es ist hart. Und jetzt ist René tot. Jetzt tut es richtig weh. Lange Zeit fiel es mir schwer, überhaupt einen Fuß in das Theater zu setzen, schon beim Vorbeifahren hatte ich Tränen in den Augen. Wissen Sie, ein niederer, lebensbejahender Teil von mir war auch froh, den Absprung geschafft zu haben. Von dieser Bühne und auch aus der Kantine. Was wir gemacht haben, war einfach nicht gesund. Wir waren das gefährlichste Theater der Welt. Wir sind zu früh gegangen, aber dafür sind wir auch unsterblich. Don’t look back.

Muss Theater gefährlich sein?

Es muss was auf dem Spiel stehen. Wer nichts wagt, braucht nicht anzutreten. Aber wenn ich mich so umgucke, wie soll das gehen bei all dem Safety-first-Theater? Florentina Holzinger lässt es krachen. Aber sonst wird’s gerade sehr dünn. Deswegen habe ich mir das Räuberrad der Volksbühne als Ring schmieden lassen, um mir vor Augen zu halten, wo ich herkomme. Jetzt bedeutet er mir aber auch noch etwas anderes, nämlich ein bisschen mehr auf meinen Körper achtzugeben. Damit ich noch eine Weile da bin. Meine letzte Zigarette hab ich an dem Tag geraucht, an dem René starb.

Sind Sie erwachsen geworden?

Ja. Und dabei wollte ich das nie.

So wie die Stadt?

Ja, so wie die Stadt. Berlin, Stadt als Beute. Wir gehen jetzt noch mal in alle Pollesch-Stücke. Die, die noch laufen, sind die letzten, die es gibt. Diese Texte kommen nicht wieder.

Und was wird aus Berlin?

Das habe ich Klaus Wowereit neulich bei einem Essen auch gefragt. Wir waren uns darüber einig, dass Berlin auf dem besten Weg ist, reich und unsexy zu werden. Frau Merkel war auch da, sie saß neben mir. Wir haben uns eine Stunde unterhalten.

Worüber?

Über den Wiener Kongress. Und Metternich.

Aha.

Aha? Sie müssen jetzt fragen, warum ausgerechnet darüber.

Weil es ein Projekt gibt?

Ja, gibt es. Wir machen bei Disney eine Serie über den Wiener Kongress.

Wen spielen Sie?

Darf ich noch nicht sagen. Angela Merkel war jedenfalls froh, dass ich mit ihr nicht über Russland reden wollte, sondern eben über 1815. Wenn es am Tisch zu tagespolitisch wurde, meinte sie: Wir sollten uns nicht zu weit von Metternich entfernen.

Was findet Angela Merkel an Fürst Metternich?

Das mussten wir Wowereit auch erklären: Metternich schaffte es, mit hellstem diplomatischen Geschick nach dem Größenwahn Napoleons wieder eine Balance der Mächte und Frieden in Europa herzustellen. Hat 100 Jahre gehalten. Wir sprachen das chorisch aus. Ich merkte an, dass Frauen weit weniger kriegerisch seien als Männer. Und dass es damals in den Wiener Salons wesentlich mehr Damen gab, die es verstanden, auf die Herren politisch Einfluss zu nehmen. Mit Charme, Gespür, Witz und Takt. Das hat Frau Merkel gefallen.

Klingt nach einem schönen Abend.

Es war die Geburtstagsfeier der legendären Filmproduzentin Regina Ziegler. Noch so eine starke Frau. Irgendwann setzte sich der Schauspieler Christian Berkel zu uns an den Tisch, und die Ex-Kanzlerin schenkte nun ihm ihre Aufmerksamkeit. Ich konnte mich nicht zurückhalten. Es entfuhr mir: Aha – Merkel und Berkel! Daraufhin kam von Wowi: Metternich, mecker nich! Aber, ich will den Abend gar nicht so feuchtfröhlich zusammenfassen. Ich war wirklich tief beeindruckt.

Sie müssten sauer auf Wowereit sein, er hatte Renner eingesetzt und das Ende von Castorf herbeigeführt. Gut, dass an dem Abend offenbar kein Bier in Reichweite war!

Wir haben uns die Hand gegeben. Wie Politiker das machen, ich spiele ja gerade einen. Von innen uffmischen, Sie verstehen. Natürlich hab ich ihm gesteckt, dass man einem Max Reinhardt oder einem Bertolt Brecht nicht das Theater wegnimmt. Das macht man einfach nicht. Er sieht das wohl anders.

Vielleicht ist Chialo weniger beratungsresistent.

Er hat den Rat, den er braucht: Geh ins Risiko, Joe!

Nehmen Sie Alexander Scheer, Herr Chialo!

Psst. Quatsch. Ich habe keine Ahnung vom Theater.

Deshalb ja. Sie suchen das Risiko, hassen den doppelten Boden und langweilen sich, wenn Sie merken, dass Sie können, was man von Ihnen verlangt. Springen Sie!

Stimmt, aber ich glaube kaum.

Sie kriegen noch einen Stab von fähigen Mitarbeitern, die das ganze nervige Zeug übernehmen, und repräsentieren das Amt. Alexander Scheer, der König der Volksbühne. Bei Ihnen kommt viel zusammen: Artaud, Glamour, Osten und die Weigerung, erwachsen zu werden.

Klingt überzeugend. Wäre nur eine Sache: Das Honorar ist zu knapp. Es gibt diesen tollen Satz von Chuck Berry im Film „Hail! Hail! Rock ’n’ Roll“. Keith Richards und er proben zusammen, Berry spielt einen Standard, lässt ein bisschen was gucken, ein paar Läufe, ein paar Major-7/9-Akkorde, wirklich herzerwärmend. Keith ist total hin und fragt ihn, warum er nicht mehr Jazzplatten einspiele: Und Chucky, sehr trocken: „There is no money in it!“

Und so geht es Ihnen mit dem Theater.

Well, ich muss Geld verdienen. Das geht beim Film eindeutig besser. Es ist mir peinlich, aber ich sage es jetzt einfach: Ich habe eine Wohnung in Berlin gekauft. Der Ostler hat’s kapiert. Eigentum erwerben, um nicht aus der Innenstadt zu fliegen. Zwanzig Jahre zu spät, aber mit historisch niedrigen Zinsen. Jetzt rede ich schon wie ein Westler. Ich fürchte, mit einem Ost-Intendantengehalt werde ich da nicht ganz hinkommen. Ansonsten halte ich es wie Henry Hübchen und verspreche immer schön, dass ich bald wieder auf der Bühne stehe.

Sie glauben ihm nicht?

Klar, alle haben ihm geglaubt, als er sagte: Frank, ich komme bald wieder an die Volksbühne. Aber er kam nicht.

Er könnte bei Ihrer Intendanzeröffnung sein Comeback feiern, als Hauptmann von Köpenick in der Regie von Frank Castorf. Sie müssen einfach nur alle dazu bringen, wiederzukommen. Es sind ja noch nicht alle tot.

Sie träumen. Die Volksbühne, wie wir sie kannten, ist Vergangenheit. Das Theater ist überhaupt Vergangenheit. Es hält jetzt Winterschlaf. Wacht bestimmt wieder auf, aber dann mit anderen Leuten. Da kommen jetzt die nächsten, und vielleicht wollen die gar nicht mehr wissen, wie wir das gemacht haben. Vielleicht ist das ihre einzige Chance. Die wollen ihr eigenes Ding machen, nicht das von den Alten weiterdrehen. Das OST steht vielleicht nicht mehr auf dem Dach, aber das Räuberrad, das steht noch da. Und da wäre es gut, wenn ein paar alte Räuber noch wissen, was es bedeutet.

Hier lauert Gefahr.

Richtig. Hier lauert Gefahr. Ja, wir wissen das. Wir sind die alten Räuber. Wir waren dabei, und wir sind noch da. Hört also, was wir wissen. Über das Theater und über die Stadt. Wenn wir nicht erzählen, wie’s war, dann wird es auch keiner glauben.

Sind wir jetzt die beiden Alten aus der Muppet Show, Herr Scheer?

Das könnte sogar sein, Herr Seidler. Also raus hier und ab in den Frühling.

Müssen wir rennen?

Das müssen wir. Hopp! Auf drei!

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„Geh ins Risiko, Joe!“: Alexander Scheer verrät dem Kultursenator, was die Volksbühne jetzt braucht

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21.04.2024

Ist das Ende nah? Das Ende der Volksbühne? Das Ende von Berlin? Ist der Spaß vorbei? Sind wir erwachsen geworden? Der Schauspieler Alexander Scheer ist eine der Galionsfiguren der Castorf-Zeit – wegen seiner exzessiven Einsätze nicht nur auf der Bühne, sondern auch auf dem Dach des Theaters und natürlich in der Kantine, wo er in einem historischen Moment ein Glas Bier über dem Kopf eines Kulturpolitikers leerte. Er wirkt, als wir ihn im Château Royal in Mitte treffen, überaus vital.

Wir haben uns zum Interview verabredet, um etwas von seiner Zuversicht und Angriffsfreude abzusaugen. Er sitzt in der Sonne, tut sich gütlich an einer Etagere mit Meeresfrüchten im Eisbett und einem beschlagenen Glas Weißwein, später wechseln wir ins Kaminzimmer, in dem es angenehm nach verwehtem Buchenrauch duftet. Direkt vor der Tür parkt sein amerikanischer Wagen, der farblich auf die Garderobe und den Hut abgestimmt zu sein scheint. Die Örtlichkeit hat er vorgeschlagen, der Interviewer schleicht sich unauffällig an.

Herr Scheer, Sie sind doch ein Kind der DDR, warum sind Ihnen teure und schöne Dinge so wichtig?

Ist doch ein netter Laden hier! Mit Ausnahme der beiden Fensterputzer da vorne sind wir wahrscheinlich die beiden einzigen Ost-Berliner hier drin. Ja, es ist teuer hier, aber sehr lecker. Und damit muss man umgehen, statt sich zu verstecken, Herr Seidler. Sie dürfen sich nicht vor den Genüssen des Lebens und des Konsums drücken.

Ich mag diesen Luxus eigentlich nicht. Ich kann auch auf dem Zeltplatz übernachten.

Ganz falsche Einstellung! Man muss zugreifen und Ansagen machen. Berlin ist sonst verloren. Die Leiche ist gefleddert, alles ist ausverkauft. Die Ostler werden aussterben. Wir sind die letzten. Wir müssen raus aus dem Service und rein in die Organisationen und von innen aufmischen. Ich sehe keine andere Chance. Also, rein hier ins Château, Austern abfassen, Fotos im Trainingsanzug, und dann schnell machen, dass wir wieder wegkommen.

Sie werden doch nicht die Zeche prellen wollen!

I wo! Wir haben gelernt und arbeiten mit Bewirtungsbelegen …

An welchem Punkt der Karriere sind Sie denn? Sie sind jetzt mehr als zwanzig Jahre im Geschäft. Ist endlich Erntezeit?

Ja, das haben Sie schön gesagt. Was nicht heißt, dass ich nicht immer wieder säen muss. Aber es ist gerade eine reiche Zeit der Ernte. Schöne Angebote, gute Gagen. Ich muss nichts beweisen und kann entspannt arbeiten.

gestern

•vor 1 Std.

19.04.2024

Was war der Punkt? Ihre Titelrolle in Andreas Dresens „Gundermann“?

Ja. Aber Punkt kann man eigentlich nicht sagen. Davor war „Gladbeck“, das war auch entscheidend. Und natürlich meine Lehrjahre an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Aber „Gundermann“ war sicher der Gamechanger, sowohl was mein Können betraf als auch die Chance, es zu zeigen.

Mir sind als Theaterkritiker ein paar frühere Triumphe wichtiger. Mir fällt „Kean“ ein, 2008. Da haben Sie mich übrigens angelogen und gesagt, dass es das letzte Mal sei, dass Sie für das subventionierte Theater spielen.

Ha! Das war nicht gelogen, das war meine feste Überzeugung! Das war kein Zuckerschlecken. Warum habe ich die Rolle gekriegt? Weil alle anderen die Schnauze voll hatten von Castorf: Hübchen, Wuttke, Peschel, Schütz. Es reichte vielen nach zehn, fünfzehn Jahren.

Und da hat Castorf Sie angerufen.

Ich bin nachgerückt. Berlin hatte die Volksbühne satt damals. Das war eine Talsohle. Wir haben teilweise vor halbleerem Haus gespielt. Dabei waren wir großartig, klar! Im Odeon in Paris haben wir sechs „Kean“-Shows am Stück gespielt, die Leute haben sich........

© Berliner Zeitung


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