Vielleicht lag es daran, dass ich wegen einer persönlichen Geschichte sowieso etwas melancholisch war. Oder daran, dass ich gerade aus der wundersamen aktuellen Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt kam, die mich gedankenvoll aus den nur behutsam beleuchteten Räumen in die Winterluft stupste. Aber ich lief auf dem Bürgersteig und plötzlich überfielen mich die Bilder, die ich nie gesehen habe.

Am Morgen hatte ich einen Artikel im Spiegel gelesen, geschrieben von einem Journalisten, der wie einige andere vom Staat Israel eingeladen war, sich den auf 45 Minuten zusammengeschnittenen Film des Massakers anzuschauen, das die Hamas am 7. Oktober verübte. Ich würde mir einen solchen Film niemals anschauen, denn Bilder sind stark, sie graben sich tief ein in dich und können für den Rest deines Lebens wieder erscheinen wie Geister. Man wird sie nie wieder los.

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Aber ich hatte offenbar vergessen, dass das auch Bilder können, die man gar nicht gesehen hat. Ich las also den Artikel, und ich werde Ihnen nun nicht die Details der Gräueltat erzählen, es ging um einen jüdischen Vater und seine zwei kleinen Söhne, die wehrlos überfallen wurden. Und glauben Sie mir, ich schreibe das hier nicht, um Sie von dem Antisemitismus der Palästinenser oder irgendwem sonst zu überzeugen, und ich schreibe nicht, ohne zu wissen, dass auch in Gaza schreckliche Dinge geschehen, ich schreibe das wirklich nur, weil ich so überfallartig überrascht war von den Bildern, die ich nie gesehen habe. Die mich in meinem Kopf einholten, mich so plötzlich und stark berührten, nur weil ich Stunden zuvor schwarze Zeichen auf weißem Grund gelesen hatte.

Später am Abend, zu Hause, fiel mir dann ein Buch des russischen Dichters Ossip Mandelstam in die Hände. Es war ein Band seiner ganz furchtbar schönen „Kinder- und Scherzgedichte“. Mandelstam schreibt so heiter und hintersinnig optimistisch, sein Leben war geprägt von Armut und Hunger, er kam in einem von Stalins Arbeitslagern in Sibirien um. Meine kluge Frau erzählte mir dann die Geschichte, dass wir einige seiner Gedichte heute nur noch lesen können, weil seine Frau Nadeschda und Freunde von ihm seine nie aufgeschriebenen Texte in ihren Köpfen aufbewahrten, indem sie sie auswendig lernten. Sie trugen sie in ihrem Gedächtnis und in ihren Herzen mit sich wie einen Schatz, beschützten sie vor Zensur und dem Vergessen. Und heute kann man sie lesen. Schwarz auf weiß. Und das erscheint mir fast wie ein Wunder. Ich weiß nicht, ob diese beiden Episoden wirklich etwas miteinander zu tun haben, aber sie passierten am selben Tag. Im Nachwort schreibt Ralph Dutli, Mandelstams Gedichte stünden „für den Wunsch, noch im größten Schlamassel das Lachen und den Lebensmut nicht aufzugeben“.

QOSHE - Hamas-Terror und Ossip Mandelstam: Als mich die Bilder überfielen, die ich nie gesehen habe - Timo Feldhaus
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Hamas-Terror und Ossip Mandelstam: Als mich die Bilder überfielen, die ich nie gesehen habe

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18.12.2023

Vielleicht lag es daran, dass ich wegen einer persönlichen Geschichte sowieso etwas melancholisch war. Oder daran, dass ich gerade aus der wundersamen aktuellen Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt kam, die mich gedankenvoll aus den nur behutsam beleuchteten Räumen in die Winterluft stupste. Aber ich lief auf dem Bürgersteig und plötzlich überfielen mich die Bilder, die ich nie gesehen habe.

Am Morgen hatte ich einen Artikel im Spiegel gelesen, geschrieben von einem Journalisten, der wie einige andere vom Staat Israel eingeladen war, sich den auf 45 Minuten zusammengeschnittenen Film des Massakers anzuschauen, das die Hamas am 7. Oktober verübte. Ich würde mir einen solchen Film niemals anschauen, denn Bilder sind stark,........

© Berliner Zeitung


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