Dieser Film ist Heimatkunde. Schmerzhafte Heimatkunde, denn auch wenn jeder, der hier zu Wort kommt, einem davon abrät, ja es einem verbieten möchte: Man kann nicht anders, als die Menschen, deren Stimmen man in diesem Film hört, vor der Folie des Holocaust zu betrachten, in dem die meisten von ihnen umkamen.

Der Dokumentarfilm „I dance but my heart is crying – Ich tanz, aber mein Herz weint“ von dem Regisseur Christoph Weinert, unterstützt von der Jewish Claims Conference, hatte am Mittwoch im Berliner Kino Babylon Mitte Weltpremiere, und der Ort war nicht zufällig gewählt. Zwei Minuten Fußweg entfernt liegt das Haus in der Almstadtstraße 10, die bis 1951 Grenadierstraße hieß. Hier war eines der beiden jüdischen Plattenlabel beheimatet, deren Geschichte der Film erzählt: Das Semer-Label, das Hirsch Lewin neben seiner Hebräischen Buchhandlung betrieb.

In der Reichspogromnacht am 9. November 1938 wurde hier alles zerstört, es war das Ende des Geschäfts. Nicht viel weiter weg lagen die Räume des Labels Lukraphon, in der Friedrichstraße nämlich. Beide Label waren Anfang der 1930er-Jahre gegründet worden; die Künstler, für die sie produzierten, hatten seit der Machtergreifung der Nazis 1933 nur noch im Rahmen von Veranstaltungen des Jüdischen Kulturbunds auftreten dürfen.

Dass diese Aufnahmen nicht für immer verschwunden sind, ist dem aus Hamburg stammenden Rainer E. Lotz zu verdanken, ein passionierter Plattensammler, den man ruhig auch als Musikhistoriker bezeichnen kann – und der zunächst auf einen Katalog des Semer-Labels stieß. Sein Spürsinn war geweckt, er bat einen Freund in Israel um Hilfe. Und wirklich: Viele Platten hatten mit den Menschen überlebt, denen es gelang während oder nach dem Krieg nach Palästina zu fliehen. Hier kommt eine zweite Folie ins Spiel. Es ist die des 7. Oktober, seitdem es gerade in der Welt der Kultur oft ausgeblendet wird, dass Israel auch der Staat von Überlebenden des Holocaust ist, die ihrer Auslöschung gerade noch entkommen sind.

•vor 6 Std.

09.04.2024

gestern

Daniel-Ryan Spaulding: Schwule Männer, die Israel unterstützen, werden als Pinkwasher bezeichnet

heute

„Irgendwas mit Geschichte“ – Claudia Roths Rahmenkonzept Erinnerungskultur stößt auf Kritik

gestern

Wenn die beiden erzählen, ist ihnen der Spaß an der Detektivarbeit genauso anzumerken wie die Begeisterung über ihre Funde. Sie entdeckten die Schellackplatten zum Beispiel in einem Haus in Tel Aviv, das kurz vor dem Abriss stand, auf dem Dachboden im Haus des Bruders von Andreas Weißgerber, ein berühmter Geiger, auf dem Mount Karmel in Haifa.

Im Zentrum des Films aber stehen die Musiker des 2012 in Berlin gegründeten Semer-Ensembles, steht die Musik, die sie wiederbelebt haben. Nach dem Gehör, wie der Leiter des Ensembles Alan Bern erzählt, mit neuen Arrangements, denn Noten gibt es keine mehr.

Wenn sie spielen, dann geschieht das, was dieser Film erklärtermaßen erreichen will: die Künstlerinnen und Künstler und ihre Werke nicht als Opfer des Vernichtungswillens der Nazis zu zeigen, sondern als stark und lebendig. Bei manchem Stück möchte man sich aus dem Kinosessel erheben und tanzen, man möchte klatschen. Und manchmal zerreißt es einem auch das Herz. Wenn Sasha Lurje das von Dora Gerson stammende Lied „Vorbei“ interpretiert etwa: „Ein letzter Blick, ein letzter Kuss/und dann ist alles aus/ Vorbei, vorbei, vorbei“.

Ja, es ist ein Lied, das eine verlorene Liebe besingt, die Liebe zu einem Mann. Die Liebe zu einem Land, einer verloren gehenden Heimat vielleicht aber auch, man muss es einfach so verstehen – und anmerken, dass die deutsche Schauspielerin Dora Gerson hier nicht etwa jüdische Musik, sondern einen deutschen Schlager singt. Sie war kurz mit Veit Harlan verheiratet, der später den antisemitischen Film „Jud Süß“ gemacht hat, wurde in Auschwitz ermordet. Noch in einem niederländischen Übergangslager trat sie auf.

Freiheit für Mr. Bojangles – wie weiter beim Thema kulturelle Aneignung?

12.01.2024

„Überraschung: Auch Greta hasst Juden“: Die Antilopen Gang und ihr Song „Oktober in Europa“

05.04.2024

In diesem Film steckt eigentlich noch eine zweite Geschichte, die unbedingt erzählt werden müsste. Es ist die Geschichte der jüdischen Musiker, die in den 1980er-Jahren nach Berlin gekommen sind oder nach dem Mauerfall: Alan Bern, Daniel Kahn, Mark Kovnatskiy und Sahsha Lurje, Paul Brody. Sie kamen aus den USA und aus dem Gebiet, das man damals noch Ostblock nannte, um hier in dieser Stadt ihre Musik zu machen, sie weiterzuentwickeln.

Einige von ihnen haben das arabisch geprägte Neukölln zu ihrer kulturellen und teilweise tatsächlichen Heimat gemacht, zu ihrem Jiddischland. Sie haben ein Festival namens Shtetl Neukölln etabliert, das Ende April wieder stattfindet. Und es ist die Geschichte des Deutschen Fabian Schnedler, Mitarbeiter der Bildungsabteilung des Jüdischen Museums, der im Semer-Ensemble ausgerechnet vor allem die religiösen Lieder interpretiert. Ein bisschen darf er erzählen, wie er sich dem genähert hat, aber man erführe gern mehr.

„I dance but my heart is crying“ kommt voraussichtlich im Sommer ins Kino.

QOSHE - Schmerzhafte Berliner Heimatkunde: Der Dokumentarfilm „I dance but my heart is crying“ - Susanne Lenz
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Schmerzhafte Berliner Heimatkunde: Der Dokumentarfilm „I dance but my heart is crying“

12 0
11.04.2024

Dieser Film ist Heimatkunde. Schmerzhafte Heimatkunde, denn auch wenn jeder, der hier zu Wort kommt, einem davon abrät, ja es einem verbieten möchte: Man kann nicht anders, als die Menschen, deren Stimmen man in diesem Film hört, vor der Folie des Holocaust zu betrachten, in dem die meisten von ihnen umkamen.

Der Dokumentarfilm „I dance but my heart is crying – Ich tanz, aber mein Herz weint“ von dem Regisseur Christoph Weinert, unterstützt von der Jewish Claims Conference, hatte am Mittwoch im Berliner Kino Babylon Mitte Weltpremiere, und der Ort war nicht zufällig gewählt. Zwei Minuten Fußweg entfernt liegt das Haus in der Almstadtstraße 10, die bis 1951 Grenadierstraße hieß. Hier war eines der beiden jüdischen Plattenlabel beheimatet, deren Geschichte der Film erzählt: Das Semer-Label, das Hirsch Lewin neben seiner Hebräischen Buchhandlung betrieb.

In der Reichspogromnacht am 9. November 1938 wurde hier alles zerstört, es war das Ende des Geschäfts. Nicht viel weiter weg lagen die Räume des Labels Lukraphon, in der Friedrichstraße nämlich. Beide Label waren Anfang der 1930er-Jahre gegründet worden; die Künstler, für die sie produzierten, hatten seit der Machtergreifung der Nazis 1933 nur noch im Rahmen von Veranstaltungen des Jüdischen Kulturbunds auftreten dürfen.

Dass diese........

© Berliner Zeitung


Get it on Google Play