Seit dem 7. Oktober ist auch Deutschland Schauplatz des Nahostkonflikts geworden. Die Verunsicherung ist groß, die Meinungsfreiheit bedroht, beobachtet der Regisseur Barrie Kosky.

Die offizielle deutsche Position zu Israel hält er für problematisch, die guten Absichten, mit denen deutsche Politiker den Antisemitismus bekämpfen wollen, für zwecklos. Wir treffen uns im Schillertheater in Berlin-Charlottenburg, dem Ausweichquartier der Komischen Oper während der Renovierung.

Der 7. Oktober liegt nun fast fünf Monate zurück. Können Sie sich noch daran erinnern, was Sie empfunden haben, als die Nachricht Sie erreichte?

Ich habe erst nach und nach verstanden, was das für ein Horror ist. Eigentlich ein Pogrom. Ein Pogrom im Jahr 2023. Der schlimmste Alptraum. Egal, was für ein Jude man ist, ob religiös oder säkular, ob man in Israel lebt oder in der Diaspora – das hat eine Tür in uns allen geöffnet. Nicht nur, was das 20. Jahrhundert angeht, sondern auch hinsichtlich der Pogrome in früheren Jahrhunderten. Die Assoziationen, die das geweckt hat, stecken tief in unserer Identität, unserer DNA.

Was für ein Jude sind Sie denn?

Ich bin 57 Jahre alt und versuche noch immer, die Antwort auf diese Frage zu finden. Ich liebe meine jüdische Kultur. Ich bin nicht religiös, glaube nicht an Gott. Aber ich bin ein spiritueller Mensch, kann tief berührt in der Synagoge sitzen, ohne zu beten. Ich bin mit meinem Judentum in einem ständigen, fast talmudisch zu nennenden Dialog. Ich habe ein riesengroßes Interesse an jüdischer Literatur, an jüdischem Denken, egal, ob das von einem kabbalistischen Rabbi aus dem 16. Jahrhundert stammt, von Spinoza oder Moses Mendelssohn. Ich bin ein großer Fan von jüdischer Musik des 20. Jahrhunderts, wie Sie wissen, und von jüdischem Humor. Ich bin stolz, ein Jude zu sein. Judentum ist nicht nur eine Religion. Das unterscheidet es etwas vom Christentum, denn es ist schwer, ein christlicher Atheist zu sein. Es gibt Juden, die sagen würden, ich sei kein Jude, weil ich keine Kippa trage und nicht in die Synagoge gehe. Das ist Quatsch. Nur ist dieser Ozean an Möglichkeiten jüdischer Identität für Nichtjuden manchmal schwer zu verstehen.

Sie kommen aus Australien, leben in Berlin; ist Israel ein Bezugspunkt für Ihre jüdische Identität?

Ich glaube an den Staat Israel, auch wenn ich weiß, dass Zionismus nicht ohne Probleme und Widersprüche ist – so wie alle politischen Manifeste. Ich glaube, dass in Israel in den vergangenen 70 Jahren für jüdische Menschen etwas sehr Wichtiges und Außerordentliches passiert ist.

•gestern

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23.02.2024

23.02.2024

In Berlin waren die Folgen des 7. Oktober schnell spürbar, auch auf der Straße. Wie haben Sie das erlebt?

Ich selbst habe das nicht erlebt, aber Freunde haben ihren Davidstern abgelegt und kein Hebräisch auf der Straße mehr gesprochen. Das ist furchtbar und nicht akzeptabel. Ich lebe in Berlin in einer privilegierten Bubble. Von meinem Wohnzimmer gehe ich in die Oper, von dort in ein Restaurant. Im Grunde haben wir alle auf eine furchtbare Welle gewartet, und ich bin dankbar und erleichtert, dass das nicht eingetroffen ist. Aber diese Ereignisse in Berlin, so etwas wie der Abbruch der Hannah-Arendt-Lesung in Hamburger Bahnhof, das, was an den Universitäten passiert, also in einem intellektuellen, akademischen Milieu – das macht mich sehr nervös und auch wütend.

Teilen der Kunstszene wird seit dem 7. Oktober ihr Schweigen vorgeworfen, manche sagen, sie sei von Antisemitismus durchdrungen. Ist das so?

Der Antisemitismus war nie weg. Dieser Ur-Hass geht seit 2000 Jahren nicht weg. Das kommt in Wellen. Er wird auch benutzt. Trump benutzt ihn, Orbán, Putin, die arabischen Länder – alle auf ihre eigene Weise. Und auch im intellektuellen Milieu ist der Antisemitismus nie weg gewesen. Trotzdem stellt sich angesichts der Kunstszene die Frage, was Demokratie, Meinungs- und Kunstfreiheit eigentlich sind. Was kann man sagen? Und da gerät man in unbekannte Gewässer.

Was meinen Sie?

Keiner von uns weiß doch ganz genau, wie er über den Konflikt sprechen soll. Aber wichtig ist, dass man darüber spricht. Meine Angst bezieht sich auf die Polarisierung der Debatte. Entweder man ist komplett auf der Seite Israels und auf der Seite der demokratisch gewählten israelischen Regierung, egal, was Israel macht. Das ist die offizielle deutsche Position, würde ich sagen. Und diese Position ist heutzutage richtig problematisch. Oder man ist komplett auf der Seite der Palästinenser, egal, ob sie die Hamas unterstützen. Aber ich und viele andere Juden sagen: Man kann gegen das Massaker der Hamas sein und gleichzeitig kritisieren, was die israelische Regierung unter Netanjahu macht. Nur viele Menschen machen diese Unterscheidung nicht. Und das macht mir Angst.

Woran machen Sie das fest?

Haben Sie gehört, dass vor ein paar Tagen jemand den Davidstern-Anhänger an der Statue von Amy Winehouse in London mit einer palästinensischen Flagge überklebt hat? Was hat Amy Winehouse mit alldem zu tun? Warum können die Menschen nicht zwischen der schlimmsten Regierung in der Geschichte Israels und den Juden oder dem Land Israel unterscheiden? Viele Menschen trennen auch nicht zwischen der jüdischen Diaspora und der Regierung des Staates Israel, dieser faschistischen, autoritären und religiösen Koalition Netanjahus, die Israel zerstört. Ich bin Teil der Diaspora und halte das, was Israel in Gaza macht, für einen großen Fehler und eine menschliche Katastrophe. 30.000 Menschen sind dort gestorben. Dabei sollte es oberste Priorität sein, die israelischen Geiseln zurückzubringen und nicht Rache zu üben. Und islamische und jüdische Rache ist groß. Das ist eine hochemotionale Sache, biblisch und gefährlich.

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Wo sehen Sie Antisemitismus in Deutschland?

Durch die Straßen zu marschieren oder in ein Museum zu gehen und „From the river to the sea“ zu schreien oder „Free Palestine“ bedeutet doch, dass es nicht nur darum geht, was die israelische Regierung macht, sondern um die Ausrottung der Juden. Denn sonst würde man vor der israelischen Botschaft demonstrieren. Viele Juden – auch ich – haben das Gefühl, dass da diese alten antisemitischen Tropen zurückkommen: Die Juden haben es verdient, die Juden haben zu viel Einfluss in Amerika, die Juden kontrollieren das Geld und die Medien. All diese furchtbaren antisemitischen Narrative finden sich auch im bürgerlichen Diskurs. Wieder! Da kann ich mich so lange hinstellen, wie ich will, und schreien: Es ist die israelische Regierung, die das macht, nicht alle Juden.

Die deutsche Innenministerin hat diese Parolen in bestimmten Kontexten für strafbar erklärt.

Ich habe einfach ein Riesenproblem mit Verboten. Ich bin total gegen BDS und alles, wofür es steht, aber die BDS-Resolution war meiner Meinung nach ein Fehler. Menschen keinen Raum zu geben, sie zu canceln, weil sie BDS unterstützen, ist sehr problematisch. Auch der Berliner Kultursenator hat mit besten Intentionen einen großen Fehler gemacht mit seiner Antisemitismusklausel. Schade, dass er vorher nicht mit ein paar Juden außerhalb der Jüdischen Gemeinde in Berlin gesprochen hat. Und mit ein paar Kulturinstitutionen. Wenn in einer Demokratie Ideen verboten werden, fühle ich mich sehr unwohl. Egal, wie furchtbar sie sind. Das ist genau das, was Demokratie für mich bedeutet: dass ich mich manchmal unwohl fühle.

Natürlich haben viele deutschen Politiker gute Absichten. Sie wollen aus historischen Gründen ein Zeichen setzen. Ich verstehe das. Aber was bedeutet das für die Meinungsfreiheit und die Demokratie? Was bedeutet es, wenn für jüdische Fragen und Antisemitismus andere Regeln gelten? Demokratie heißt nicht, die Ideen oder Meinungen, die einem gefallen, zuzulassen und die, die einem missfallen, zu verbieten. Man kann sich in einer Demokratie nicht die Rosinen herauspicken. So funktioniert das nicht. Ich würde auch „Mein Kampf“ nicht verbieten, auch wenn ich es angesichts der Geschichte historisch verstehe.

Im Historischen Seminar meiner Universität stand Hitlers „Mein Kampf“ im Giftschrank.

Wenn man alles in den Giftschrank stellt, wird das Gift letztendlich herauskommen. Man sieht es jetzt am Erfolg der AfD, aber das ist ein anderes Thema.

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Joe Chialo wollte mit der Antidiskriminierungsklausel auf Antisemitismus in der Welt der Kunst reagieren.

Es gibt diesen Ausbruch von latentem und auch nicht so latentem Antisemitismus im Kulturbereich und den Universitäten. Wenn ich diese schreienden privilegierten jungen Studenten sehe. Universitäten sind doch ein Raum für komplexe und widersprüchliche Ideen. Setzt euch hin und redet respektvoll miteinander. Empathie ist das Fundament für das Verstehen der anderen Seite.

Die Besatzung in der Westbank ist falsch. Es ist nicht antisemitisch, das zu sagen. Es ist nicht antisemitisch zu fragen, was Israel mit fast sechs Millionen palästinensischen Menschen macht und eine langfristige Lösung zu fordern, die diesen Menschen Hoffnung gibt. Ich beobachte aber im nicht-jüdischen, bürgerlichen Diskurs, dass Menschen Angst haben, über so etwas zu sprechen. Angst, dass jemand mit dem Finger auf sie zeigen und sagen könnte: Du bist ein Antisemit. Auf der anderen Seite gibt es viel Ignoranz.

Wo sehen Sie Ignoranz?

Unsere Greta in Schweden zum Beispiel hat die Zeit, in der sie in der Schule hätte sein sollen, beim Klimastreik verbracht. Sie hat vergessen, ein paar Bücher zu lesen. Nun verbindet sie Klimawandel mit „Free Palestine“, sodass man denkt, sie ist meschugge. Und wer weiß, was die Balfour-Deklaration ist, welche Rolle die Osmanen dabei spielten? Wer weiß denn, dass fast alle arabischen Länder ihre jüdische Bevölkerung nach Israel geschickt haben? Wer kennt die Geschichte des Zionismus von Theodor Herzl bis heute? Wir leben in einer Welt von Instagram-Intellektuellen.

Ist es auch ignorant, Israel für ein koloniales Projekt zu halten?

Wenn man Israel als koloniales Projekt bezeichnet, was haben dann Kolonialmächte wie England, Spanien und Frankreich gemacht? Ich bin total gegen das, was die Siedler dort tun in der Westbank, aber den ganzen Staat Israel als ein koloniales Projekt zu bezeichnen, ist falsch und ignorant.

Sehen Sie denn irgendwo Hoffnung?

Nichts hat Sinn im Moment. Der Diskurs ist problematisch, die Menschen schreien einander nieder. Alles ist dunkel. Man kann nur hoffen, dass aus dieser furchtbaren Tragödie etwas Gutes entsteht. Vielleicht in ein paar Jahren. Damit sich etwas ändert, müssen die Israelis akzeptieren, dass das, was die Siedler machen, falsch ist. Sie müssen mit den palästinensischen Menschen leben. Sie müssen akzeptieren, dass sie Land zurückgeben müssen, dass eine Lösung gefunden werden muss, egal was in der Vergangenheit passiert ist. Und die palästinensischen Menschen müssen akzeptieren, dass man sich nicht mit der Hamas oder der Hisbollah verbinden kann, deren oberste Priorität es ist, den Staat Israel zu zerstören und alle Juden zu töten. Und dass sie nicht das ganze Land zurückbekommen. Das ist schwer, es ist schmerzhaft, und es wird nur mit internationalem Druck passieren. Aber die Alternative ist die Vernichtung beider Seiten.

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Zurück zum deutschen Diskurs. Was genau halten Sie daran für problematisch?

Ich bin seit fast 20 Jahren in Deutschland und sehe die sehr guten Absichten, aber zum Beispiel sprechen die jüdischen Gemeinden in Deutschland nicht für alle Juden. Und die deutschen Antisemitismusbeauftragten sind nicht die Autoritäten bei jüdischen Themen. Die deutsche nicht-jüdische Welt muss akzeptieren, dass es nicht eine einzige jüdische Haltung gibt. Judentum ist Pluralismus, aber das wird nicht gesehen, nicht von der Politik, nicht den Medien. Deshalb sind Menschen wie ich oder zum Beispiel Susan Neiman momentan so irritiert. Was wir sagen, ist eben komplizierter, es hat Grautöne. Wahrscheinlich würden mich manche deshalb einen Antisemiten nennen.

Ich habe viele muslimische Freunde, wir sprechen ständig über dieses Thema und sind manchmal unterschiedlicher Meinung, was Religion angeht, den Nahen Osten, Israel. Wir diskutieren feurig, aber das ist gesund. Und am Ende umarmen wir uns und sagen: Ich liebe dich. Ich möchte jetzt keine Utopie heraufbeschwören, aber mit irgendetwas muss man anfangen. Empathie ist ein guter Anfang. Doch in diesen Zeiten halten viele nur das, was sie selbst fühlen, für richtig, alles andere ist scheißegal. Aber der Kulturbereich und die Universitäten müssen ein Safe Space auch für unbequeme Themen sein.

Halten Sie die guten Absichten deutscher Politiker und Antisemitismusbeauftragter im Kampf gegen Antisemitismus für wirksam?

Egal, wie viele wichtige Statements gegen Antisemitismus deutsche Politiker abgeben, egal, wie viele Konzerte stattfinden und egal, wie oft man die wunderbare Margot Friedländer auftreten lässt: Es hilft langfristig nichts. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich liebe Margot, sie ist eine außergewöhnliche und mutige Frau, aber sie wird derzeit benutzt.

Wofür?

Als ein Symbol dafür, dass man in Deutschland nicht antisemitisch ist, weil da ja eine Holocaustüberlebende sitzt. Auch ich werde manchmal benutzt. Was ich sagen will: All diese Statements und Events sind wichtig, aber sie helfen null im Kampf gegen den Antisemitismus tief in der Gesellschaft. Zero!

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Was könnte denn helfen?

Bildung, Bildung, Bildung, Bildung. Nicht nur über die Geschichte des Judentums und Antisemitismus. Es muss eine ganz neue Form von schulischer Bildung für alle geben, egal ob deutsche oder gerade erst migrierte Menschen. Es muss Toleranz gelehrt werden. Man kann Toleranz nicht trinken, man kann sie nicht in einer Flasche im Supermarkt kaufen, man muss sie lernen. Man muss lernen: Hass ist Hass. Egal, ob er sich gegen ein jüdisches oder muslimisches Kind richtet oder gegen einen trans Teenager. Es gibt keine Hierarchie von Hass. Aber viele, auch jüdische Menschen denken, dass Antisemitismus eine besondere Form von Hass ist. Und Deutschland stellt Antisemitismus ganz oben auf die Hass-Leiter. Doch für ein trans Kind, das in der U-Bahn verprügelt wird, gibt es keine Hierarchie von Hass. Zum Glück gibt es in Deutschland wunderbare Einrichtungen, die sich hier engagieren.

Welche denn?

Ich denke an die KIgA, die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus, eine Berliner Organisation, die vor 20 Jahren von deutsch-türkischen Menschen gegründet wurde. Sie machen unglaublich wichtige Workshops für islamische Jugendliche zum Thema Antisemitismus, sie haben internationale Preise gewonnen, unter anderem vom Holocaustmuseum in Washington. Aber sie leben von der Hand in den Mund, kriegen nur Projektförderung von der Stadt Berlin und dem Bund. Man hätte nur diesem furchtbaren Humboldt-Projekt ein bisschen Geld wegnehmen müssen und hätte die KIgA die ganzen 20 Jahre stabil finanzieren können. Ich denke, ein Teil der Jüdischen Gemeinde hat ein ambivalentes Interesse an der KIgA. Wir Juden in Berlin müssten alle vor der KIgA in Dankbarkeit niederknien. Sie könnte ein Modell für ganz Deutschland sein. Ich habe jedenfalls die Nase voll von dem Gespräch über den Kampf gegen den Antisemitismus. Ich bin kein armer Jude, der in Berlin sitzt, Angst hat und seinen Kopf in den Sand steckt, weil alles zu kompliziert ist. Ich bin ein Theatermann, mich interessiert vor allem die Praxis. Wir müssen mehr praktische Lösungen anbieten. Und die KIgA ist ein strahlendes Beispiel dafür.

Sie bewegen sich in der internationalen Welt der Kunst. Wie blickt man denn dort auf Deutschland?

Man sieht, dass Deutschland schweigt. Deutschland muss den Mut aufbringen, die heutige israelische Regierung zu kritisieren. Viele meiner deutschen Freunde sagen, das sei aus historischen Gründen nicht möglich. Und ich sage: Es ist möglich, wenn man die richtigen Worte findet. Die ganze Welt spielt doch derzeit ein hochproblematisches Spiel. Deutschland bezieht jetzt Gas aus Katar, dabei ist Katar der Hauptsponsor der Hisbollah und der Hamas. Deutschland könnte doch seine Rolle als das Land, das sich für Menschenrechte einsetzt, annehmen. Ich warte auf den Tag, an dem ich die Zeitung aufschlage und einen sehr kritischen Text über Netanjahu lese. Ich weiß, das gibt es schon, aber nicht sehr oft und nicht kritisch genug. Und ich verstehe das ja auch. Aber Israel benutzt die Tatsache, dass Deutschland sich selbst zensiert. Die heutige israelische Regierung spielt mit Deutschland, mit seinem Schuldgefühl hinsichtlich des Holocausts.

Sie sagten vorhin, der Kulturbereich müsse ein Safe Space für Ideen sein. Was genau meinen Sie damit?

Wenn ein Theaterstück, eine Ausstellung oder ein Buch kein Safe Space für problematische Ideen mehr sind, dann sind wir verloren. Nehmen wir die Documenta. Da haben alle alles falsch gemacht. Ein Kunstwerk mit einem schwarzen Tuch zu verhüllen und den Künstler zurück nach Indonesien zu schicken, ist kein richtiger Umgang mit der Debatte. Wenn ich in einem Kunstwerk eine antisemitische Trope entdecke, verlange ich dann, dass es ins Feuer gehen muss? Nein! Als Intendant würde ich erst mal das Gespräch mit dem Künstler suchen und ihm erklären, wie problematisch und falsch das ist.

Man kann von einem indonesischen Künstlerkollektiv nicht erwarten, dass es sich der ganzen Geschichte des europäischen Antisemitismus bewusst ist. Das ist lächerlich. Wichtig ist, dass es einen Dialog gibt. Diese Leute gehen doch nach Indonesien zurück und sagen, Deutschland ist ein totalitärer Staat, es gibt dort keine Freiheit. In Jakarta wird es heißen: Fuck you, Deutschland. Und dann steht in einem Kasseler Museum die Karikatur eines Juden aus Porzellan, der mit dem Tod tanzt, in einem Glaskasten! Ein Freund von mir hat das Foto geschickt. Und ich dachte: Moment mal! Ich sage es noch mal: Dialog, Debatte, Diskussion. Die drei D. Wenn wir uns nicht darauf konzentrieren, sind wir verloren.

QOSHE - Barrie Kosky: „Man kann sich in einer Demokratie nicht die Rosinen herauspicken!“ - Susanne Lenz
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Barrie Kosky: „Man kann sich in einer Demokratie nicht die Rosinen herauspicken!“

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25.02.2024

Seit dem 7. Oktober ist auch Deutschland Schauplatz des Nahostkonflikts geworden. Die Verunsicherung ist groß, die Meinungsfreiheit bedroht, beobachtet der Regisseur Barrie Kosky.

Die offizielle deutsche Position zu Israel hält er für problematisch, die guten Absichten, mit denen deutsche Politiker den Antisemitismus bekämpfen wollen, für zwecklos. Wir treffen uns im Schillertheater in Berlin-Charlottenburg, dem Ausweichquartier der Komischen Oper während der Renovierung.

Der 7. Oktober liegt nun fast fünf Monate zurück. Können Sie sich noch daran erinnern, was Sie empfunden haben, als die Nachricht Sie erreichte?

Ich habe erst nach und nach verstanden, was das für ein Horror ist. Eigentlich ein Pogrom. Ein Pogrom im Jahr 2023. Der schlimmste Alptraum. Egal, was für ein Jude man ist, ob religiös oder säkular, ob man in Israel lebt oder in der Diaspora – das hat eine Tür in uns allen geöffnet. Nicht nur, was das 20. Jahrhundert angeht, sondern auch hinsichtlich der Pogrome in früheren Jahrhunderten. Die Assoziationen, die das geweckt hat, stecken tief in unserer Identität, unserer DNA.

Was für ein Jude sind Sie denn?

Ich bin 57 Jahre alt und versuche noch immer, die Antwort auf diese Frage zu finden. Ich liebe meine jüdische Kultur. Ich bin nicht religiös, glaube nicht an Gott. Aber ich bin ein spiritueller Mensch, kann tief berührt in der Synagoge sitzen, ohne zu beten. Ich bin mit meinem Judentum in einem ständigen, fast talmudisch zu nennenden Dialog. Ich habe ein riesengroßes Interesse an jüdischer Literatur, an jüdischem Denken, egal, ob das von einem kabbalistischen Rabbi aus dem 16. Jahrhundert stammt, von Spinoza oder Moses Mendelssohn. Ich bin ein großer Fan von jüdischer Musik des 20. Jahrhunderts, wie Sie wissen, und von jüdischem Humor. Ich bin stolz, ein Jude zu sein. Judentum ist nicht nur eine Religion. Das unterscheidet es etwas vom Christentum, denn es ist schwer, ein christlicher Atheist zu sein. Es gibt Juden, die sagen würden, ich sei kein Jude, weil ich keine Kippa trage und nicht in die Synagoge gehe. Das ist Quatsch. Nur ist dieser Ozean an Möglichkeiten jüdischer Identität für Nichtjuden manchmal schwer zu verstehen.

Sie kommen aus Australien, leben in Berlin; ist Israel ein Bezugspunkt für Ihre jüdische Identität?

Ich glaube an den Staat Israel, auch wenn ich weiß, dass Zionismus nicht ohne Probleme und Widersprüche ist – so wie alle politischen Manifeste. Ich glaube, dass in Israel in den vergangenen 70 Jahren für jüdische Menschen etwas sehr Wichtiges und Außerordentliches passiert ist.

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23.02.2024

23.02.2024

In Berlin waren die Folgen des 7. Oktober schnell spürbar, auch auf der Straße. Wie haben Sie das erlebt?

Ich selbst habe das nicht erlebt, aber Freunde haben ihren Davidstern abgelegt und kein Hebräisch auf der Straße mehr gesprochen. Das ist furchtbar und nicht akzeptabel. Ich lebe in Berlin in einer privilegierten Bubble. Von meinem Wohnzimmer gehe ich in die Oper, von dort in ein Restaurant. Im Grunde haben wir alle auf eine furchtbare Welle gewartet, und ich bin dankbar und erleichtert, dass das nicht eingetroffen ist. Aber diese Ereignisse in Berlin, so etwas wie der Abbruch der Hannah-Arendt-Lesung in Hamburger Bahnhof, das, was an den Universitäten passiert, also in einem intellektuellen, akademischen Milieu – das macht mich sehr nervös und auch wütend.

Teilen der Kunstszene wird seit dem 7. Oktober ihr Schweigen vorgeworfen, manche sagen, sie sei von Antisemitismus durchdrungen. Ist das so?

Der Antisemitismus war nie weg. Dieser Ur-Hass geht seit 2000 Jahren nicht weg. Das kommt in Wellen. Er wird auch benutzt. Trump benutzt ihn, Orbán, Putin, die arabischen Länder – alle auf ihre eigene Weise. Und auch im intellektuellen Milieu ist der Antisemitismus nie weg gewesen. Trotzdem stellt sich angesichts der Kunstszene die Frage, was Demokratie, Meinungs- und Kunstfreiheit eigentlich sind. Was kann man sagen? Und da gerät man in unbekannte Gewässer.

Was meinen Sie?

Keiner von uns weiß doch ganz genau, wie er über den Konflikt sprechen soll. Aber wichtig ist, dass man darüber spricht. Meine Angst bezieht sich auf die Polarisierung der Debatte. Entweder man ist komplett auf der Seite Israels und auf der Seite der demokratisch gewählten israelischen Regierung, egal, was Israel macht. Das ist die offizielle deutsche Position, würde ich sagen. Und diese Position ist heutzutage richtig problematisch. Oder man ist komplett auf der Seite der Palästinenser, egal, ob sie die Hamas unterstützen. Aber ich und viele........

© Berliner Zeitung


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