Nicaragua verklagt Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Der Vorwurf lautet, die Bundesregierung ermögliche wegen ihrer Waffenlieferungen an Israel einen Völkermord in Gaza. Die Bundesregierung weist den Vorwurf von sich und stellt die Legitimität des Gerichts infrage. Die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen (Bündnis Sahra Wagenknecht) hat den Prozess als parlamentarische Beobachterin vor Ort begleitet. Im Gespräch mit der Berliner Zeitung erläutert sie die Hintergründe der Verhandlung.

Frau Dagdelen, Nicaragua wirft Deutschland eine Beteiligung am Völkermord vor, den Israel an den Palästinensern verübe. Sie verfolgen als parlamentarische Beobachterin den Prozess in Den Haag. Welche Vorwürfe werden gegenüber Deutschland erhoben?

Deutschland wird zum einen vorgeworfen, durch seine massiven Waffenlieferungen an Israel einen Völkermord wie auch Verletzungen des humanitären Völkerrechts zu begünstigen. Außerdem steht Deutschland vor Gericht, weil es seine Zahlungen an das Palästinenserhilfswerk UNRWA gekappt hat.

Die Bundesregierung hat versucht, sich zu verteidigen, indem sie auf die deutschen Genehmigungspflichten für Kriegswaffen und sonstige Rüstungsgüter verwiesen hat. Sie trug vor, dass es sich nur bei einem relativ geringen Teil der Genehmigungen um Kriegswaffenexporte gehandelt habe, die zudem zeitnah nach dem 7. Oktober erteilt worden seien.

Kann sich Deutschland mit dieser Position von den Anklagepunkten befreien?

Der Verweis auf die spezifisch deutsche Unterscheidung zwischen Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern ist irreführend, da unter die Kategorie der sonstigen Rüstungsgüter durchaus auch Waffen fallen, die zur Kriegführung eingesetzt werden können. Ein weiteres zentrales Argument der deutschen Verteidigung war, dass das Vorliegen eines Völkermords noch nicht festgestellt sei und Deutschland daher nicht der Beihilfe zum Völkermord schuldig gesprochen werden könne.

Damit verkennt die Bundesregierung jedoch die völkerrechtliche Pflicht zur Verhütung von Völkermorden. Das ist umso bedeutender, als der IGH im Fall Südafrika gegen Israel Schutzanordnungen getroffen hat, um der von dem Gericht als plausibel angesehenen Gefahr eines Völkermords vorzubeugen. In diesem Zusammenhang war es bemerkenswert, dass von der deutschen Prozessvertretung der Eindruck erweckt wurde, die deutsche Staatsräson, Israel bedingungslos zu verteidigen, stünde über internationalem Recht.

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Nicaragua will erreichen, dass Deutschland keine Waffen mehr an Israel liefert. Welche Rolle spielen deutsche Waffen in dem derzeitigen Krieg im Gazastreifen?

Die Bundesregierung hat sich in Den Haag darauf versteift, zu behaupten, deutsche Waffen spielten eine geringe Rolle bei dem Angriff auf den Gazastreifen und würden teilweise nur zum Training eingesetzt. Selbst die eingestandene Genehmigung der Lieferung von 3.000 Panzerabwehrwaffen hat sie in ihrer Bedeutung zu relativieren versucht. Auch die intensive militärische Kooperation mit Israel wurde heruntergespielt. Nach Angaben des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri war die Bundesrepublik jedoch im Jahr 2023 mit 47 Prozent gleich nach den USA der zweitgrößte Waffenlieferant Israels.

Wie hat die Bundesregierung auf die Anklage reagiert?

Die Bundesregierung stellte die Zuständigkeit des Gerichts infrage, da es mit Israel eine abwesende dritte Partei gäbe, und beharrte darauf, dass die vorherige Feststellung eines Völkermords und von Verletzungen des humanitären Völkerrechts erforderlich sei, um das Verfahren gegen Deutschland führen zu können. Wir werden sehen, ob dies wirklich überzeugende Argumente waren.

Auffällig war die ständige Betonung der Bundesregierung, dass sie Israel zur Zurückhaltung aufgefordert und vor einer Intervention in Rafah „gewarnt“ habe. Die Frage ist doch, wenn die Bundesregierung wirklich überzeugt ist, dass sich Israel an das humanitäre Völkerrecht hält, warum sie so sehr betont, Israel gewarnt und zu Zurückhaltung aufgefordert zu haben.

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Heute haben die Anwälte der Bundesregierung ihre Plädoyers gehalten. Wie haben Sie diese wahrgenommen?

Interessant ist, dass die Bundesregierung den Tatsachenvortrag Nicaraguas, was die Verletzungen des humanitären Völkerrechts durch Israel angeht, nicht bestritten hat. Die Feststellung, dass Nicaragua keine konkreten Beweise für die Begünstigung Deutschlands vorgelegt habe, wirkte schwach, wie auch die Einlassung, Managua habe seine Verbalnoten an die falschen Botschaftsadressen geschickt, sodass Deutschland nicht rechtzeitig habe reagieren können.

Intensiv wurden dem Gericht Power-Point-Präsentationen der deutschen Rüstungsexportgesetze gezeigt und auf die Genehmigungspflichten wie auf die interne völkerrechtliche Prüfung verwiesen. Inwieweit dies zu überzeugen vermag, ist schwer abzuschätzen. Tatsache bleibt, dass Deutschland bereits in der Vergangenheit zu den größten Waffenstellern Israels gehörte. Im Zeitraum von 2019 bis 2023 machten deutsche Waffen einen Anteil von 30 Prozent an den israelischen Waffenimporten aus. Es ist wenig glaubwürdig, dies jetzt in Abrede stellen zu wollen oder zu behaupten, ein Gros der Waffen sei nur für Trainingszwecke in jüngster Zeit geliefert worden. Mit dem Hinweis, die Waffenexportgenehmigungen seien zuletzt abnehmend, entkräftet die Bundesregierung keineswegs den Vorwurf, Verstöße gegen die Genfer Konvention zu begünstigen.

Vor Nicaragua ist bereits Südafrika vor den IGH gezogen und hat Israels Krieg im Gazastreifen als Genozid bezeichnet. Inwiefern unterscheiden sich die beiden Klagen?

Südafrika verklagt Israel wegen der Verletzung der Völkermordkonvention und des humanitären Völkerrechts. Nicaragua verklagt Deutschland wegen der Beihilfe zur Verletzung der Völkermordkonvention und der Verletzung des humanitären Völkerrechts. Der Vorwurf lautet, dass Deutschland seiner Verpflichtung aus der Konvention nicht nachkommt, einen Völkermord zu verhindern.

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Dazu kommen jeweils Eilanträge zum Schutz der palästinensischen Bevölkerung gegenüber der Gefahr eines Völkermords. Nicaragua hat deswegen unter anderem beantragt, dass Deutschland seine Waffenlieferungen an Israel stoppen soll und sicherstellt, dass Israel bereits gelieferte deutsche Waffen nicht zur Begehung eines Völkermords einsetzt. Der IGH hat mit Schutzverordnungen für die palästinensische Bevölkerung dem Eilantrag Südafrikas in Teilen Recht gegeben.

Da Israel sich offenbar nicht an diese Schutzanordnungen hält, liegen weitere Eilanträge gegen das Land bei dem IGH vor. Die Bundesregierung versucht, das Bild zu vermitteln, das Verfahren sei abwegig, da ein Völkermord oder auch Verletzungen der Genfer Konvention nicht vom IGH festgestellt worden seien. Der Kern der Völkermordkonvention, deren Zweck darin besteht, Völkermorde zu verhüten, wird bewusst oder unbewusst unterschlagen. Hier kann die Frage, ob Deutschland durch die Waffenlieferungen Beihilfe leistet, der Gefahr eines Völkermords und der Verletzung humanitären Völkerrechts Vorschub zu leisten, zu einer entscheidenden Rechtsfrage werden.

Sollte der IGH im Sinne der Anklage entscheiden, welche Folgen hätte dies für Deutschland und für Israel?

Wenn Nicaragua mit seiner Klage durchkommt, würde sich Deutschland bei künftigen Waffenlieferungen an Israel offen gegen internationales Recht stellen. Weitere Verfahren gegen Deutschland wären dann zu erwarten. Aber der IGH könnte dem Antrag Nicaraguas folgend Deutschland damit beauftragen, Israel den Einsatz der gelieferten deutschen Waffen in Gaza zu untersagen.

Unabhängig vom Ausgang des Verfahrens ist ein Waffenstopp an Israel allein angesichts der 13.000 getöteten palästinensischen Kinder mehr als überfällig. Weitere Waffenlieferungen lassen sich vor dem Hintergrund des schrecklichen humanitären Leids in Gaza nicht mit dem Selbstverteidigungsrecht Israels begründen. Bereits jetzt ist der politische Schaden, was die internationale Reputation Deutschlands angeht, immens. Die Bundesregierung droht mit ihrer bedingungslosen militärischen Hilfe für die in Teilen rechtsextreme Regierung Netanjahu das Bild eines Deutschlands zu verspielen, das sich international gegen Kriegsverbrechen und die Gefahr von Völkermorden einsetzt.

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Glauben Sie, die Klage vor dem Internationalen Gerichtshof wird Auswirkungen auf die deutsche Außenpolitik haben?

Im Grunde stehen 70 Jahre Außenpolitik Deutschlands nach der Befreiung vom deutschen Faschismus auf dem Spiel. Die Bundesregierung versucht zwar, dies zu überspielen, indem sie betont, dem Verfahren gelassen gegenüberzustehen. Diese Gelassenheit wird allerdings nur von Wenigen weltweit geteilt. Die Ampel-Regierung muss aufpassen, hier nicht völlig ins Abseits zu geraten. Und anders als sich dies vielleicht einige Kabinettsmitglieder vorstellen, sind Drohungen aus Deutschland gegen das wichtigste Rechtssprechungsorgan der Vereinten Nationen, dieses sei nicht mehr glaubwürdig, wenn es gegen Berlin entscheide, sowohl in Den Haag als auch in der internationalen Öffentlichkeit vermutlich wenig förderlich für die eigene Glaubwürdigkeit.

Wenn die Bundesregierung das Völkerrecht nur noch dann akzeptiert, wenn es für ihr eigenes Regierungshandeln vorteilhaft erscheint, ist sie endgültig auf dem Niveau des führenden Nato-Mitglieds USA angelangt, die das Völkerrecht nur noch als Steinbruch einer durchsichtigen interessegeleiteten Politik begreifen. Das hat die gravierende Folge, dass damit die Türen für andere geöffnet werden, sich ebenso nicht mehr an das Völkerrecht zu halten.

Vielen Dank für das Gespräch.

QOSHE - Anklage wegen Beihilfe zum Völkermord in Gaza: Deutsche Verteidigung „wenig glaubwürdig“ - Simon Zeise
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Anklage wegen Beihilfe zum Völkermord in Gaza: Deutsche Verteidigung „wenig glaubwürdig“

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10.04.2024

Nicaragua verklagt Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Der Vorwurf lautet, die Bundesregierung ermögliche wegen ihrer Waffenlieferungen an Israel einen Völkermord in Gaza. Die Bundesregierung weist den Vorwurf von sich und stellt die Legitimität des Gerichts infrage. Die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen (Bündnis Sahra Wagenknecht) hat den Prozess als parlamentarische Beobachterin vor Ort begleitet. Im Gespräch mit der Berliner Zeitung erläutert sie die Hintergründe der Verhandlung.

Frau Dagdelen, Nicaragua wirft Deutschland eine Beteiligung am Völkermord vor, den Israel an den Palästinensern verübe. Sie verfolgen als parlamentarische Beobachterin den Prozess in Den Haag. Welche Vorwürfe werden gegenüber Deutschland erhoben?

Deutschland wird zum einen vorgeworfen, durch seine massiven Waffenlieferungen an Israel einen Völkermord wie auch Verletzungen des humanitären Völkerrechts zu begünstigen. Außerdem steht Deutschland vor Gericht, weil es seine Zahlungen an das Palästinenserhilfswerk UNRWA gekappt hat.

Die Bundesregierung hat versucht, sich zu verteidigen, indem sie auf die deutschen Genehmigungspflichten für Kriegswaffen und sonstige Rüstungsgüter verwiesen hat. Sie trug vor, dass es sich nur bei einem relativ geringen Teil der Genehmigungen um Kriegswaffenexporte gehandelt habe, die zudem zeitnah nach dem 7. Oktober erteilt worden seien.

Kann sich Deutschland mit dieser Position von den Anklagepunkten befreien?

Der Verweis auf die spezifisch deutsche Unterscheidung zwischen Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern ist irreführend, da unter die Kategorie der sonstigen Rüstungsgüter durchaus auch Waffen fallen, die zur Kriegführung eingesetzt werden können. Ein weiteres zentrales Argument der deutschen Verteidigung war, dass das Vorliegen eines Völkermords noch nicht festgestellt sei und Deutschland daher nicht der Beihilfe zum Völkermord schuldig gesprochen werden könne.

Damit verkennt die Bundesregierung jedoch die völkerrechtliche Pflicht zur Verhütung von Völkermorden. Das ist umso bedeutender, als der IGH im Fall Südafrika gegen Israel Schutzanordnungen getroffen hat, um der von dem Gericht als plausibel angesehenen Gefahr eines Völkermords vorzubeugen. In diesem Zusammenhang war es bemerkenswert, dass von der deutschen Prozessvertretung der Eindruck erweckt wurde, die deutsche Staatsräson, Israel bedingungslos zu verteidigen, stünde über internationalem Recht.

Nicaragua vor IGH: Ende deutscher Waffenhilfe für Israel „äußerst dringend“

08.04.2024

Interview: Baerbocks........

© Berliner Zeitung


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