An Gleis 5 des Prager Hauptbahnhofs werden Weizenbier in Dosen und Sekt kredenzt. Während der Fahrt gibt es Pommes frites in Tüten gratis ins Abteil. Im Fahrradabteil tanzen Reisende unter Lampions zu Musik aus der Boombox, während die Moldau und die Elbe im Dunkeln entlangziehen. Der private Nachtzug European Sleeper, der seit zehn Monaten Berlin mit Amsterdam und Brüssel verbindet, startet jetzt bereits in Prag. Die Premierentouren wurden von dem Unternehmen und der europäischen Nachtzug-Community groß gefeiert. Doch der Weg war schwierig, und er wird es bleiben. „Wir sind noch nicht in ruhigem Fahrwasser“, sagt Elmer van Buuren von European Sleeper.

Wer keinen Mut zum Träumen hat, hat keine Kraft zum Kämpfen – ein alter Sponti-Spruch. Schon ziemlich angestaubt, doch bei Elmer van Buuren wirkt er immer noch frisch. „Ich habe davon geträumt, ein Bahnunternehmen zu gründen“, sagt der Niederländer. Über ein Vierteljahrhundert ist das her. Noch mehr Zeit ist vergangen, seitdem Chris Engelsman neben einer Bahnstrecke aufwuchs, auf der lange, bunte Züge ins Ausland fuhren. Er hat sich mit dem Nachtzug-Virus schon als Kind angesteckt.

Vor drei Jahren wagten die beiden Freunde den Schritt. Sie wollten nicht nur darüber reden, ob man dem Nachtzug nach Jahrzehnten des Niedergangs zu einer Wiedergeburt verhelfen sollte. Ihr Ziel war, so einen Zug auf die Schienen zu setzen. 2021 gründeten van Buuren und Engelsman European Sleeper. Dank rund 1700 kleinen und mittleren Investoren steigerte die niederländisch-belgische Genossenschaft ihr Eigenkapital auf zunächst 2,5 Millionen Euro. Inzwischen kamen weitere Millionen hinzu. Wer will, kann auch jetzt noch einsteigen: Ab 250 Euro kann man Mitbesitzer werden, heißt es.

Deutlich schwieriger war es allerdings, genug Wagen und Trassen zusammenzubekommen. Deshalb war es erst am 25. Mai 2023 soweit: Am Abend begann die erste Fahrt von Brüssel-Süd über Antwerpen, Rotterdam und Amsterdam nach Berlin.

gestern

27.03.2024

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Damit hatte van Buuren aber noch nicht seinen ganzen Traum verwirklicht. „Ich träumte auch davon, dass ich nach Tschechien fahre“, ruft er in Erinnerung. Mit Chris Engelsman war er sich einig, dass ihr Zug nicht nur drei, sondern vier Hauptstädte miteinander verbinden sollte. Nicht nur nach Berlin, auch nach Prag gibt es viele Flüge von Westeuropa – die Nachfrage müsste reichen. Allerdings sagte die Deutsche Bahn (DB) Nein: Im Elbtal bei Dresden werde gebaut, für mehr Züge fehle der Strecke Kapazität.

Jetzt, nach Monaten des Wartens, haben es die beiden Bahn-Chefs geschafft. Am 25. März stand zum ersten Mal Prag und nicht Berlin als Ziel auf der Anzeigentafel, als der European Sleeper kurz vor halb acht abends in Brüssel startete. Ein langer Zug mit 15 Wagen machte sich auf die mehr als 1200 Kilometer weite Reise durch die Nacht, die dank einer Verspätung und Umleitung in Deutschland eine halbe Stunde länger dauern sollte – rund 16 Stunden. 420 Tickets waren verkauft worden. Die Chefs reisten mit.

Am Nachmittag stehen die Niederländer im makellos sanierten alten Teil des Prager Hauptbahnhofs vor vielleicht rund 300 Gästen auf der Bühne, um zu feiern. „Vor drei Jahren haben wir zu zweit begonnen. Jetzt verbinden wir vier Hauptstädte“, sagt van Buuren. Dafür, dass es um einen Zug geht, der dreimal in der Woche mit nicht mehr ganz taufrischem Wagenmaterial verkehrt, ist die Party unter den Jugendstilgirlanden im Saal des Fantova budova ziemlich groß ausgefallen. Ob in Deutschland ebenfalls zwei Minister, der Bürgermeister, der Chef der nationalen Tourismusorganisation und der Chef der Staatsbahn zu so einer Feier gekommen wären, ist eine hypothetische Frage.

„Das Leben ist ein Zug, keine Station“, philosophiert der Prager Oberbürgermeister Bohuslav Svoboda. „Das goldene Zeitalter des Nachtzugs in den 1970er- und 1980er-Jahren mag vorbei sein. Aber der Wunsch, bequem und nachhaltig zu reisen, bleibt“, sagt Jurgen van Meirvenne, der belgische Botschafter in Prag. Für den National Carrier sei es etwas Besonderes, mit einem Unternehmen wie European Sleeper zusammenzuarbeiten, meint Michal Krapinec, Generaldirektor der tschechischen Staatsbahn České dráhy. Die ČD stellt auf dem tschechischen Abschnitt den Lok- und den Zugführer.

Auch sonst ist der Betrieb so bunt wie einst die Züge, denen Chris Engelsman als Kind sehnsüchtig nachschaute. Da sind die Wagen: Sie gehören Euro Express, TRI und GFF. Eine typische Zugkomposition besteht aus zwei österreichischen Schlafwagen, die 1955 gebaut und in den 1990er-Jahren renoviert wurden, sowie zehn Liegewagen. Damit ist die Kapazität größer als im ÖBB Nightjet, der von Berlin aus Paris, Zürich und Wien ansteuert. Nicht nur Fans freuen sich, dass sie in den Wagen die Fenster öffnen können.

Train Charter Services ist der Dienstleister für die Traktion. Die Traxx-Lok von Bombardier (heute Alstom), die alle Stromsysteme entlang der Route akzeptiert, gehört wiederum Railpool. Die Servicekräfte, die an Bord das Bettzeug bereitlegen, Frühstück und Getränke ausgeben, sind bei der belgischen Firma Wagon Plastron angestellt. Was für ein Aufwand, um drei Fahrten pro Richtung und Woche zu organisieren!

Und da kommt schon der nächste alte Sponti-Spruch ins Bild: Du hast keine Chance – aber nutze sie. Das Umfeld, in dem der Zug unterwegs ist, ist komplex bis ablehnend. So hat es sehr lange gedauert, bis der European Sleeper endlich eine Trasse in einer vernünftigen Zeitlage zusammen hatte. Das Unternehmen verhandelte mit drei staatlichen Netzbetreibern, die nach unterschiedlichen Kriterien handeln. Weil die DB auf der Elbtalstrecke baute, war dort in der Tat lange Zeit kein Slot zu haben. Für mehr als einen internationalen Zug pro Stunde und pro Richtung sei kein Platz, beschied die Bahn.

Nun können der ES 452 und der ES 453 die pittoreske Route durch die Sächsische Schweiz nutzen. Doch das Kostenthema bleibt. Generell ist es so, dass Zugbetreiber für jeden Verkehrshalt und für jeden Kilometer Entgelte zahlen, die in diesem Fall an die Bahntochter DB InfraGo gehen. Die Tarife werden heute schon als zu hoch empfunden. Doch damit nicht genug: 2025 werden die Trassenpreise weiter steigen, im Fernverkehr um beachtliche 17,7 Prozent. Die hohen Kosten machen auch European Sleeper zu schaffen – und den Investoren, von denen die meisten privates Geld gegeben haben.

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Als sich die Deutsche Bahn 2016 aus dem Betrieb von Schlaf- und Liegewagen zurückzog, führte sie vor allem ökonomische Gründe ins Feld. Es sei heute nicht mehr möglich, solche Nachtzüge kostendeckend oder gar profitabel zu betreiben, sagte sie. So brauchen sie mehr Personal als Tageszüge. Wagen mit Betten und Liegen ließen sich nur nachts einsetzen, während andere Züge öfter fahren und mehr Einnahmen erzielen können.

Wer Nachtzüge betreibt, wird mit wirtschaftlichen Zwängen konfrontiert, die Newcomer schon bald in die Bredouille bringen können. Das Berliner Fernzug-Start-up Locomore musste das erfahren. European Sleeper habe das Kapital weiter aufstocken können und verfüge über mehr Mittel, die länger reichen, sagt ein Privatinvestor von European Sleeper. Doch klar sei auch: „Mit jedem Tag, mit jeder Fahrt wird Geld verbrannt.“

Elmer van Buuren formuliert es an diesem Premierentag so: „Wir wollen 2024 profitabel werden.“ Doch dazu müssten die Ticketerträge weiter steigen, und dafür sei es erforderlich, dass Fahrkarten auch im DB-Navigator erhältlich sind – analog zu Belgien und den Niederlanden. „Die Preisauskunft nebst Buchung wäre sehr wohl möglich, die technischen Voraussetzungen sind gegeben. Das ist im Sinne der Fahrgäste, und selbstverständlich zahlt European Sleeper der DB die branchenübliche Provision. Mit den staatlichen Bahnen aus Belgien und aus Tschechien arbeiten wir bereits kollegial und professionell zusammen“, teilt das Unternehmen in Utrecht mit.

Bahntickets ins oder fürs Ausland kaufen? Mark Smith rollt die Augen, erst frustriert, dann zornig. Der Bahnfan aus Buckinghamshire, der sich The Man in Seat 61 nennt, pflegt seit vielen Jahren eine Internetseite, in der er Tipps für internationale Zugreisen gibt. Der versierte Brite will den Fahrgästen die oft mühselige Arbeit ersparen, sich im Internet auf die Suche nach Informationen zu begeben. Während Flugtickets schnell gekauft sind, stehen Bahnnutzer oft vor hohen oder unüberwindlichen Hindernissen.

„Wir leben in einer digitalen Welt“, weiß der Brite. Doch der europäische Bahnkosmos verharre mancherorts noch zwischen Stein- und Bronzezeit. Für viele Verbindungen könne man weiterhin keine Fahrkarten im Internet erwerben. „Oder man kommt zwar hin, aber kriegt das Ticket für die Rückfahrt nur vor Ort. Oder man kann online buchen, muss das Ticket aber im Ausland am Bahnschalter abholen.“ Oder, oder, oder. „Es ist absurd. Immer noch gibt es Bahnunternehmen, die nur bis zur Grenze des eigenen Landes denken“, so Smith. Der internationale Zugverkehr, der früher übrigens oft besser war, leide nicht unter geringem Interesse: „Er hat ein kommerzielles Problem.“

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Juri Maier von Back on Track, der Initiative europäischer Nachtzug-Fans, kennt die Schwierigkeiten und Herausforderungen. Doch er ist weiterhin der festen Überzeugung, dass dieser Art des Reisens die Zukunft gehört. „Der Nachtzug ist einfach ideal, um auf Entfernungen zwischen 500 und 3500 Kilometern die Mobilität zu dekarbonisieren“, sagt der Politikwissenschaftler aus Berlin. Doch Hilfe sei nötig, und einige Staaten hätten dies erkannt. Frankreich, Italien und Österreich zahlen für Nachtzugfahrten innerhalb ihrer Grenzen Zuschüsse. Auch in den Niederlanden und Finnland gebe es Subventionen. In Belgien wiederum fielen für Nachtzüge keine Trassen- und Energiekosten an.

European Sleeper wird es schaffen“, davon ist Juri Maier überzeugt. Die Zahlen seien gut, und sie würden immer besser, heißt es dazu in dem Unternehmen. Die zwölfte Kalenderwoche 2024 sei die bislang umsatzstärkste gewesen, bestätigt Sprecher Patrick Neumann. Er nennt einige aktuelle Buchungszahlen: Für die Premierenfahrt von Brüssel nach Prag am 26. März seien 530 Tickets verkauft worden, für die Gesamtstrecke und für Teilstücke zusammengenommen. Für die Fahrt nach Brüssel, die Gründonnerstag startet, wurden allein bis Dienstag rund 560 Tickets abgesetzt. Übrigens: Auch „lokale“ Fahrten, zum Beispiel von Berlin nach Dresden, Bad Schandau oder Prag, sind buchbar.

Doch klar sei auch, dass der Betrieb weiter wachsen muss, um zusätzliche Einnahmen zu generieren. Ein täglicher Betrieb sei vorerst nicht geplant, dafür fehlten die Wagen, so die Nachtzug-Genossenschaft. Die ursprünglich erwogene Weiterführung über Berlin hinaus nach Warschau sei zwar nicht vom Tisch, aber stehe hinter einem anderen Vorhaben zurück, so der Sprecher.

„Wir bereiten eine zweite Route vor, die Amsterdam und Brüssel mit Barcelona verbindet“, sagt Chris Engelsman. Sie habe großes Potenzial, wie die Zahl der Flüge zeigt. Das nötige Fahrzeugmaterial habe man schon im Blick: Intercity-Wagen, die zuletzt bei einer Staatsbahn unterwegs waren, könnten für den Nachtverkehr umgebaut werden. Auch hier erweist sich die Trasse als der kniffligste Bereich. Vielleicht könnte sie durch den Osten Frankreichs führen? Klar sei jedenfalls, dass mit SNCF Réseau noch an den Fahrzeiten gearbeitet werden müsse. Bei 16 bis 17 Stunden sollte es schon bleiben.

Vielleicht dauern die Vorbereitungen noch bis 2026. „Es soll gut werden“, sagt Chris Engelsman. „Aber wir versuchen weiterhin, es 2025 zu schaffen.“

Man wird ja wohl noch träumen dürfen. Und: Wer nicht kämpft, hat schon verloren. Noch mehr alte Sprüche. Doch hier passen sie.

QOSHE - European Sleeper nach Berlin: Privater Nachtzug bricht zu neuen Zielen auf - Peter Neumann
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European Sleeper nach Berlin: Privater Nachtzug bricht zu neuen Zielen auf

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29.03.2024

An Gleis 5 des Prager Hauptbahnhofs werden Weizenbier in Dosen und Sekt kredenzt. Während der Fahrt gibt es Pommes frites in Tüten gratis ins Abteil. Im Fahrradabteil tanzen Reisende unter Lampions zu Musik aus der Boombox, während die Moldau und die Elbe im Dunkeln entlangziehen. Der private Nachtzug European Sleeper, der seit zehn Monaten Berlin mit Amsterdam und Brüssel verbindet, startet jetzt bereits in Prag. Die Premierentouren wurden von dem Unternehmen und der europäischen Nachtzug-Community groß gefeiert. Doch der Weg war schwierig, und er wird es bleiben. „Wir sind noch nicht in ruhigem Fahrwasser“, sagt Elmer van Buuren von European Sleeper.

Wer keinen Mut zum Träumen hat, hat keine Kraft zum Kämpfen – ein alter Sponti-Spruch. Schon ziemlich angestaubt, doch bei Elmer van Buuren wirkt er immer noch frisch. „Ich habe davon geträumt, ein Bahnunternehmen zu gründen“, sagt der Niederländer. Über ein Vierteljahrhundert ist das her. Noch mehr Zeit ist vergangen, seitdem Chris Engelsman neben einer Bahnstrecke aufwuchs, auf der lange, bunte Züge ins Ausland fuhren. Er hat sich mit dem Nachtzug-Virus schon als Kind angesteckt.

Vor drei Jahren wagten die beiden Freunde den Schritt. Sie wollten nicht nur darüber reden, ob man dem Nachtzug nach Jahrzehnten des Niedergangs zu einer Wiedergeburt verhelfen sollte. Ihr Ziel war, so einen Zug auf die Schienen zu setzen. 2021 gründeten van Buuren und Engelsman European Sleeper. Dank rund 1700 kleinen und mittleren Investoren steigerte die niederländisch-belgische Genossenschaft ihr Eigenkapital auf zunächst 2,5 Millionen Euro. Inzwischen kamen weitere Millionen hinzu. Wer will, kann auch jetzt noch einsteigen: Ab 250 Euro kann man Mitbesitzer werden, heißt es.

Deutlich schwieriger war es allerdings, genug Wagen und Trassen zusammenzubekommen. Deshalb war es erst am 25. Mai 2023 soweit: Am Abend begann die erste Fahrt von Brüssel-Süd über Antwerpen, Rotterdam und Amsterdam nach Berlin.

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27.03.2024

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Jetzt, nach Monaten des Wartens, haben es die beiden Bahn-Chefs geschafft. Am 25. März stand zum ersten Mal Prag und nicht Berlin als Ziel auf der Anzeigentafel, als der European Sleeper kurz vor halb acht abends in Brüssel startete. Ein langer Zug mit 15 Wagen machte sich auf die mehr als 1200 Kilometer weite Reise durch die Nacht, die dank einer Verspätung und Umleitung in Deutschland eine halbe Stunde länger dauern........

© Berliner Zeitung


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