Es geht um mehr als 2500 Daten und um eine Botschaft: Der Kraftfahrzeugverkehr in Berlin ist zurückgegangen, und zwar deutlich. Vor knapp vier Wochen wurden die Zahlen veröffentlicht, doch kaum jemand nahm sie wahr. Inzwischen hat sich der Berliner Mobilitätsforscher Andreas Knie das umfangreiche Konvolut genauer angeschaut. Der Wissenschaftler ist begeistert. „Diese Zahlen sind ein Hammer“, sagte Knie am Freitag der Berliner Zeitung. „Ich habe den Eindruck, dass noch nicht erkannt worden ist, wie wertvoll diese Daten für die verkehrspolitische Diskussion in Berlin sind.“

Worum geht es? Die Grünen-Abgeordnete Antje Kapek hatte den Senat gefragt, wie sich das Verkehrsaufkommen an den Zählstellen auf Berliner Straßen von 2015 bis 2023 entwickelt hat. Aus der mehrseitigen Liste, die Staatssekretärin Claudia Elif Stutz (CDU) zusammenstellen ließ, ergibt sich eine deutliche Abnahme. „Die Zähldaten zeigen, in welchem Maße auf den meisten großen Straßen die Belastung zurückgegangen ist“, fasste Knie zusammen. Oft wurden die Tiefpunkte 2021 oder 2022 erreicht, seitdem nahm die Belastung wieder zu. Doch an der langfristigen Tendenz änderte dies nichts.

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Einige Beispiele: Auf dem nordwestlichen Abschnitt des Adlergestells sank die durchschnittliche tägliche Verkehrsstärke um 37 Prozent auf 14.656 Fahrzeuge. Auf dem Westteil der Leipziger Straße ging sie um 35 Prozent auf 16.831 zurück. In der Frankfurter Allee nahm sie um 27 Prozent ab – auf 16.389 Fahrzeuge pro Tag. Für die Landsberger Allee verzeichnet die Statistik einen Rückgang um 16 Prozent auf 20.880 Fahrzeuge.

Wie sah es in den Westbezirken aus? Die westliche Kantstraße erlebte einen Rückgang auf 7944 Fahrzeuge, was einer Abnahme um fast 39 Prozent gleichkommt. Im Nordwesten des Halleschen Ufers sank die Belastung auf 15.561 Fahrzeuge – das sind 30 Prozent weniger. Auf der Hofjägerallee sank der Verkehr um 27 Prozent auf 15.500 Fahrzeuge. Für die Autobahn 115, besser bekannt als Avus, verzeichnen die Daten auf dem südwestlichen Abschnitt einen Rückgang auf 25.447 Kraftfahrzeuge – ebenfalls pro Tag. Das entspricht einem Rückgang um mehr als 19 Prozent.

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„Die Zahlen zeigen, dass eine reine Fokussierung der CDU-Verkehrspolitik auf die Leistungsfähigkeit für Kfz pure Ideologie ist, die die Verhinderung von Tramstrecken oder Radwegen begründen soll“, sagte Grünen-Verkehrspolitikerin Kapek. Doch die Nachricht ging vor vier Wochen unter – was Andreas Knie schade findet. Knie, der am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) die Arbeitsgruppe Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung leitet, hat die Zeit genutzt, die Daten zu analysieren.

„Im Grundsatz bestätigen die Zähldaten einen Trend, den wir in ganz Deutschland feststellen. Zwar steigt die Zahl der zugelassenen Kraftfahrzeuge an, doch unterm Strich werden immer weniger Kilometer zurückgelegt. Allein seit 2020 nimmt die jährliche Fahrleistung um fünf bis zehn Prozent ab“, so der Soziologie-Professor von der Technischen Universität. „Die nun bekannt gewordenen Zahlen für Berlin zeigen, dass die Fahrleistung des Kfz-Verkehrs in der Hauptstadt besonders deutlich gesunken ist.“

„Zwar gehört zum ganzen Bild auch die Tatsache, dass die durchschnittliche Verkehrsbelastung auf einigen Hauptverkehrsstraßen gestiegen ist“, gab Knie zu bedenken. So nahm die durchschnittliche tägliche Verkehrsstärke auf dem Dammweg um 13 Prozent zu. Auf der Hauptstraße betrug die Zunahme 24, auf der Blankenburger Straße 27 Prozent. Auch auf dem Spandauer Damm, der Lietzenburger Straße und der Bundesallee wurde der Verkehr dichter. „Doch für die meisten Straßen belegen die Daten eine deutliche Abnahme“, berichtete Andreas Knie. „Der Kfz-Verkehr geht zurück.“

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„Weitere Daten, die der Senat auf Anfrage mitgeteilt hat, führen uns vor Augen, dass sowohl die festgestellte Staulänge als auch die Staustunden in Berlin von 2021 bis 2024 zurückgegangen sind“ – um 3,4 beziehungsweise 16,6 Prozent, ergänzte er. „Wer jetzt noch von der angeblichen Staumetropole Berlin spricht, redet Unsinn.“ Zugleich gäben die Daten Anhaltspunkte dafür, dass der Bau von Radfahrstreifen zur Verringerung des Autoverkehrs beiträgt. So nahm der Verkehr auf dem Schöneberger Ufer, dem Tempelhofer Damm und der Kantstraße ab. Auch dort sei die Tendenz klar, sagte Knie.

Der Mobilitätsforscher forderte Konsequenzen. „Es wäre ein krasser Skandal, wenn das Land Berlin und der Bund an den großen Neubauvorhaben festhalten würden“, sagte er. „Wer jetzt noch den 16. Bauabschnitt der A100 zwischen Neukölln und Treptow fertigstellen will, wer jetzt noch den 17. Bauabschnitt der A100 nach Friedrichshain und Lichtenberg plant oder den Bau der Tangentialverbindung Ost zwischen Marzahn und Köpenick vorbereitet, handelt gegen den Trend.“

Verkehrsprojekte dieser Art seien nicht zuletzt wegen der nun veröffentlichten Daten „gegenstandslos, nicht mehr begründbar“, folgerte der Mobilitätsforscher. „Die alten Generalverkehrspläne und andere Planwerke aus dem vergangenen Jahrhundert sind endgültig Makulatur. Der Senat muss jetzt endlich den Fokus darauf legen, die vorhandene Infrastruktur in Berlin umfassend instand zu setzen, Brücken zu sanieren und die klimafreundliche Umgestaltung der Straßen voranzutreiben.“

Zwar steigt auch in Berlin die Zahl der zugelassenen Kraftfahrzeuge immer weiter an. Der Bestand umfasse jedoch in zunehmendem Maße vor allem gewerbliche Fahrzeuge – zum Beispiel Dienstwagen und Flottenfahrzeuge, rief Andreas Knie in Erinnerung. Zuletzt betrug deren Anteil an den Neuzulassungen in Berlin rund 70 Prozent. „Viele Unternehmen bemühen sich, neue Mitarbeiter dadurch zu gewinnen, indem sie ihnen Dienstfahrzeuge der oberen Klassen anbieten. Der klassische private Neuwagenmarkt schrumpft dagegen immer weiter zusammen“, berichtete der Forscher.

Dass das Auto in Berlin auf dem Rückzug sei, bestätigten auch andere Daten. So werden im Kreuzberger Graefekiez nur noch acht Prozent der Wege mit dem motorisierten Individualverkehr zurückgelegt. „Das dürfte europaweit einer der niedrigsten Werte im Modal Split sein“, sagte Knie. „Im privaten Bereich spielt das eigene Auto in Berlin eine immer kleinere Rolle.“ Dass die Fahrleistung sinkt, liege auch daran, dass sich nicht zuletzt dank Corona Gewohnheiten und Routinen verändert haben. Umfragen des WZB ergaben, dass rund ein Viertel aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland zwei bis drei Tage pro Woche nicht mehr im Büro arbeitet.

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