Kindern und Jugendlichen in Berlin scheint es zunehmend nicht gut zu gehen. Einiges deutet darauf hin: Sei es die Zunahme von Jugendgewalt oder psychischen Erkrankungen, seien es Krawalle wie an Silvester, als Teenager Brandsätze auf Polizisten und Feuerwehrleute warfen und eine ganze Stadt sich fragte, wie das passieren konnte.

Wie schlecht es Jugendlichen tatsächlich geht, darauf macht jetzt ein Brandbrief aus Marzahn-Hellersdorf aufmerksam. Mehr als 70 Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen schlagen Alarm, fordern mehr finanzielle Unterstützung. Von verstärkter Perspektivlosigkeit unter Jugendlichen ist da die Rede, von körperlicher Verwahrlosung, sexuellen Übergriffen, Suizidgedanken. Von einem stadtweiten Problem, das nicht nur hier im Bezirk auftrete – aber hier besonders. In der Kinder- und Jugendarbeit könne oft nur noch Notversorgung geleistet werden.

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Was das bedeutet, kann Alexander Paulsen vom Deutschen Roten Kreuz erzählen, er hat den Brief mitunterschrieben. An einem stürmischen Tag Ende November führt er durch seinen Jugendfreizeittreff M3+ im Nordwesten von Marzahn: Ein einstöckiges Gebäude mit großen Räumen, Billardtischen, Tischtennisplatten und Computerplätzen. Durch große Dachfenster geht der Blick auf die umliegenden Plattenbauten. Paulsen, ein freundlicher, sanfter Mann, arbeitet seit zehn Jahren „in der offenen Jugendarbeit“. Noch ist es still, erst in ein paar Stunden werden die ersten Kinder eintreffen.

30.11.2023

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30.11.2023

Berliner Zeitung: Herr Paulsen, worum geht es in der offenen Jugendarbeit?

Alexander Paulsen: Der Begriff sagt es schon: Die Tür ist offen, jeder kann kommen und gehen, wann er will, häufig kennen wir nicht mal die Eltern. Unser Konzept ist: Wir haben Regeln, und wer sich nicht daran halten möchte, der kann einfach gehen. Anders als in der Schule.

Klingt simpel.

Da fängt die pädagogische Arbeit an. Ich hatte das erst diese Woche, als ein Junge hier im Tresenraum rumgeschrien und uns als „Hurensöhne“ beleidigt hat.

Wie haben Sie reagiert?

Wir haben gesagt: Du hältst dich nicht an unsere Regeln, also möchtest du ja gar nicht hier sein. Und er: Hä, doch, ich möchte hier sein. Warum hält er sich dann nicht an die Regeln? Dahinter steckt ein Bedürfnis.

Was war sein Bedürfnis?

In dem Moment: rumzuschreien. Wenn wir genug Kapazitäten haben, können wir darauf eingehen und sagen: „Komm, hier gibt es einen Raum, hier können wir schreien.“ Dann kommt man ins Gespräch und wir können fragen, warum er so sauer ist, wie es in der Schule läuft oder zu Hause. Der Junge macht uns mit seinem Pöbeln ein Beziehungsangebot, so nennen wir das.

Ihre Einrichtung befindet sich im Nordwesten von Marzahn. Wer lebt hier?

Viele, die schon ihr ganzes Leben hier sind, viele Sozialhilfe- und Bürgergeldempfänger:innen*. Auch immer mehr Student:innen und Geflüchtete. Es gibt einen starken Zuzug.

Weil die Mieten noch günstig sind?

Und weil es grün ist! Wir waren mal mit einer Kindergruppe für einen Ausflug an der Friedrichstraße. Nach einer Weile hat eines der Kinder gefragt, wann wir wieder zurück nach Berlin fahren. Die konnten sich gar nicht vorstellen, dass nicht die ganze Stadt so grün ist wie Marzahn-Hellersdorf.

Was sind das für Kinder und Jugendliche, mit denen Sie arbeiten?

Man kann schlecht verallgemeinern. Die meisten wohnen hier in den Plattenbauten, etwa die Hälfte hat einen Migrationshintergrund. Ansonsten sind sie sehr verschieden. Und sie kommen nicht nur aus sogenannten Problemfamilien. Was aber auffällt, ist, dass es immer häufiger Kinder gibt, die nicht mehr nach Hause wollen.

Warum nicht?

Weil sie Angst haben, sich nicht wohlfühlen. Wir müssen dann prüfen, ob ein Kinderschutzfall vorliegt, ob es also konkrete Hinweise darauf gibt, dass ein Kind vernachlässigt, misshandelt oder anderweitig gefährdet wird. Mein Gefühl ist, dass das zunimmt. Und es scheint mir, als sei das ein gesellschaftliches Phänomen. Ich merke es im Gespräch mit Kollegen aus anderen Bezirken, höre sogar aus anderen Städten in Europa, dass die Probleme von Jugendlichen zunehmen. Allmählich kommen wir an unsere Grenzen.

Wie meinen Sie das?

Eigentlich müssten hier fünf ausgebildete Vollzeitkräfte arbeiten. So sieht es das Jugendamt für eine Einrichtung dieser Größe vor. Im nächsten Doppelhaushalt für Berlin sind aber nur Mittel bewilligt, die bei uns für drei Stellen reichen. Wir versuchen das auszugleichen, aber es reicht nicht. Es kommen gleichzeitig immer mehr Kinder zu uns.

Weil Sie so gute Arbeit leisten?

Möglich. Oder auch einfach, weil es hier warm ist und es bei uns etwas zu Essen gibt.

Wozu führt es, wenn Sie nicht genügend Leute haben?

Manchmal sind wir hier nur zu zweit, mit teilweise bis zu 80 Kindern. Und wenn mir dann einer erzählt, er habe Angst, heute nach Hause zu gehen, wie soll ich das auffangen?

Ist Ihnen das schon passiert?

Ja. So oder ähnliche Fälle haben wir mindestens einmal im Monat.

Wie gehen Sie damit um?

In der Situation war ich mit einer Honorarkraft allein. Die kann aber nicht alle Kinder gleichzeitig betreuen. Also habe ich bei einem unserer anderen Jugendclubs in der Nähe angerufen, die haben jemanden geschickt, so dass ich mich mit dem Kind hinsetzen und mit ihm reden konnte, was zu Hause los ist. Diese Gespräche können sehr unterschiedlich verlaufen. Manchmal rufen wir am Ende die Eltern an, damit sie herkommen und wir das gemeinsam klären können. Manchmal sagen die Eltern aber auch: Dann kommt er eben nicht, wir wollen ihn gar nicht mehr haben.

Wie bitte?

Das passiert leider. Vorhin hatten wir darüber gesprochen, warum Kinder zu uns kommen. Das ist oft, weil sie sich zu Hause nicht wohlfühlen, weil da Sachen passieren, die nicht passieren sollten. Und deswegen sind Einrichtungen wie unsere auch so wichtig. Damit Kinder sich in einem geschützten Raum öffnen und von solchen Erfahrungen erzählen können.

Können Sie das näher erklären?

Kein Kind kommt einfach und sagt, was zu Hause für schlimme Sachen abgehen. Es muss erst Vertrauen aufgebaut werden, durch Spiele, durch Tischtennis oder Billard oder im Medienraum zusammen zocken. Es dauert, bis ein Kind das Gefühl bekommt, die sind nett, die schreien mich nicht an. Aber inzwischen muss ich sagen: Vielleicht bekommen wir auch gar nicht mehr alles mit – weil wir so wenige sind.

Die Mittel für die Jugendhilfe sind in den letzten Jahren mehr oder weniger gleich geblieben. Warum spitzt sich die Lage jetzt zu?

Weil die Probleme unter den Jugendlichen zunehmen. Hier kommt es immer wieder zu Gewalt, untereinander und auch im häuslichen Kontext. Viele der Jugendlichen plagen sich mit Zukunftsängsten, fragen sich, ob es sich bei Klimawandel und Krieg überhaupt noch lohnt, einen Beruf zu ergreifen oder eine Familie zu gründen.

Und Sie haben den Eindruck, dass das zunimmt?

Ich denke, wir kriegen jetzt erst mit, was die Corona-Pandemie eigentlich bewirkt hat. Wir haben Drittklässler, die können nicht richtig schreiben. Wir haben Zweitklässler, die können nicht richtig sprechen. Wir würden gerne jeden Tag Hausaufgabenhilfe anbieten, aber auch das können wir nicht.

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Geht es unserer Jugend schlechter als früher?

Wenn ich auf die letzten zehn Jahre zurückblicke, fällt schon auf, wie viele Jugendliche nicht gut drauf sind. Wenn ich sie frage, wie es ihnen geht, sagen sie: Nicht so gut. Und die Gründe sind oft, dass sie nicht wissen, was sie jetzt machen sollen, keinen Sinn in ihrem Dasein sehen.

Haben Sie eine Erklärung dafür?

Ich bin kein Soziologe. Ich merke aber: Wenn Kinder fünf, sechs Jahre lang zu uns kommen, dann sind sie nicht mehr so. Weil sie hier lernen, über ihre Bedürfnisse zu sprechen und ihre Talente entdecken. Tanzen zum Beispiel oder Theater. Das können sie hier ausleben, anstatt auf der Straße Randale zu machen, Ärger mit der Polizei und Stress mit den Eltern zu bekommen.

In dem Brandbrief, den Sie und andere Jugendeinrichtungen geschrieben haben, steht auch, dass Sie immer wieder mit Suizidgedanken schon bei Zehnjährigen konfrontiert sind.

Wir haben auffällig viele Kinder, die sich selbst verletzen, sich ritzen oder draußen so lange gegen Gegenstände schlagen, bis ihre Hand blutet. Und die erzählen, dass sie nicht wissen, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen, wo in diesem Leben ihr Platz ist. Auch das nimmt leider zu. Aber woran das liegt, können wir leider auch nur erfahren, wenn wir den Raum und das Personal dafür haben, um zum Beispiel öfter eine Gesprächsrunde speziell für solche Themen anzubieten.

In dem Brandbrief ist auch die Rede von zunehmenden körperlichen Verwahrlosungstendenzen. Was ist damit gemeint?

Wir sehen leider zunehmend, dass Kinder zwischen sechs und zehn im Winter nur im T-Shirt und mit sehr leichten Schuhen unterwegs sind. Oder bei denen man riecht, dass sie lange ihre Kleidung nicht gewechselt oder schon länger nicht geduscht haben, bei denen wir das Gespräch suchen müssen.

Wie sagt man einem Kind, dass es schlecht riecht?

So, dass es nicht unangenehm für das Kind ist. Wenn ich es schon ein bisschen kenne, frage ich zum Beispiel: Wenn du duscht, wechselst du danach eigentlich deine Sachen?

Sie sagen also nicht, dass es sich nicht wäscht.

Genau, und dann sage ich: „Wenn du dich wäschst, und man muss sich ja an manchen Stellen täglich waschen, dann musst du auch deine Kleider wechseln, weil sonst riecht man nicht so gut. Und (Paulsen flüstert jetzt) eins muss ich dir mal sagen, du riechst ganz schön nach Schweiß, merkst du das?“ Dann kann man schon an der Reaktion sehen, was los ist. Teilweise sagt mir ein Neunjähriger dann, dass zu Hause niemand wäscht. Wir versuchen es ihm dann hier beizubringen, damit er es selbst machen kann.

Welche Rolle spielen dabei die Eltern?

Was ich mich schon frage ist: Wenn Erwachsene ein Kind adoptieren, dann müssen sie alle möglichen Erziehungskurse besuchen, in denen sie lernen, gewaltfrei zu kommunizieren, Bedürfnisse zu erkennen und so weiter. Leibliche Eltern müssen das nicht. Warum?

Eltern sind nicht ausreichend für die Erziehung ausgebildet?

So möchte ich das nicht sagen. Aber mein Gefühl ist schon, dass viele nicht genügend Zeit haben, weil sie viel arbeiten oder alleinerziehend sind, manchmal auch, weil ihre Kinder ihnen egal sind. Und dass sie sich dann leichtere Lösungen suchen, die aber nicht immer die besten für die Entwicklung des Kindes sind.

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Leichtere Lösungen?

Zum Beispiel, wenn Sie als Elternteil mit Verboten und Strafen drohen, weil Ihre Kinder laut sind und Sie aber einen stressigen Tag hatten: Wenn jetzt nicht Ruhe ist, dann … Anstatt auf die Kinder einzugehen. Ich frage mich, warum wir da nicht ansetzen, bei den Eltern. Man könnte es zum Beispiel als Voraussetzung für einen Kindergeldantrag einführen, oder beim Antrag auf einen Kitaplatz, dass Eltern einen Kurs besuchen. Auch das wäre Prävention.

Stichwort Prävention. Von der Politik wird gefordert, dass Jugendeinrichtungen in der Silvesternacht geöffnet haben sollen, um Krawalle wie im vergangenen Jahr zu verhindern. Was denken Sie darüber?

Mir ist das zu kurz gedacht. Die Leute wundern sich immer, warum es so viele Gewaltexzesse unter Jugendlichen gibt, gleichzeitig gewährt man der Jugendhilfe zu wenig Mittel. Ich frage mich: Was denkt ihr eigentlich, wo die Prävention stattfindet? Wenn man keine Gewalt an Silvester will, dann muss man auch kontinuierlich etwas dafür tun.

*Hinweis: Alexander Paulsen besteht auf die Verwendung von Sonderzeichen zur Sichtbarmachung aller Geschlechter.

QOSHE - Sorge um Jugendliche in Marzahn-Hellersdorf: „Wir kriegen jetzt erst mit, was Corona bewirkt hat“ - Niklas Liebetrau
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Sorge um Jugendliche in Marzahn-Hellersdorf: „Wir kriegen jetzt erst mit, was Corona bewirkt hat“

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Klingt simpel.

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Wie haben Sie reagiert?

Wir haben gesagt: Du hältst dich nicht an unsere Regeln, also möchtest du ja gar nicht hier sein. Und er: Hä, doch, ich möchte hier sein. Warum hält er sich dann nicht an die Regeln? Dahinter steckt ein Bedürfnis.

Was war sein Bedürfnis?

In dem Moment: rumzuschreien. Wenn wir genug Kapazitäten haben, können wir darauf eingehen und sagen: „Komm, hier gibt es einen Raum, hier können wir schreien.“ Dann kommt man ins Gespräch und wir können fragen, warum er so sauer ist, wie es in der Schule läuft oder zu Hause. Der Junge macht uns mit seinem Pöbeln ein Beziehungsangebot, so nennen wir das.

Ihre Einrichtung befindet sich im Nordwesten von Marzahn. Wer lebt hier?

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© Berliner Zeitung


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