Er leide an den vielen Toten auf beiden Seiten, sagt Lorenzo C. und meint die Toten in Israel und die in Gaza seit dem 7. Oktober. Er sagt diese Worte an diesem Mittwoch von der Anklagebank des Amtsgerichts Tiergarten aus. Lorenzo C., ein 25-jähriger Italiener mit langen, dicken Rastalocken und blassem Gesicht, muss sich hier verantworten, weil er bei einer verbotenen Palästina-Demo einen Pflasterstein auf einen Polizisten warf und diesen am Rücken traf.

Es sei bei der Demo darum gegangen, auf die unmenschlichen Zustände in Gaza aufmerksam zu machen, fährt C. fort, auf die „Schande, deren Komplizin auch die EU ist, mit ihrer bedingungslosen Unterstützung Israels“. Er kämpfe gegen den Krieg, jeden Krieg, gegen Rassismus, er sei kein Antisemit. Er sagt diese Worte auf Italienisch, ein Dolmetscher übersetzt.

Es ist der erste Prozess, der sich mit den Geschehnissen auf propalästinensischen Demonstrationen in Berlin seit dem 7. Oktober beschäftigt. Und es ist ausgerechnet ein Italiener, kein Deutscher, kein arabischstämmiger Migrant, kein Muslim, der angeklagt ist und sich schon seit vier Wochen in Untersuchungshaft befindet. Ein junger Tattookünstler aus Turin, der erst im Sommer, vor wenigen Monaten, zusammen mit seiner Freundin nach Berlin gezogen ist, um sich hier ein neues Leben aufzubauen. Viele Journalisten sind gekommen zu diesem ersten Prozess, sogar Vertreter italienischer Medien, wie Rai 1 und Ansa.

Lorenzo C., so die Anklage, habe sich am Abend des 18. Oktober gegen 19.45 Uhr in einer größeren Gruppe befunden, die in der Nähe der Sonnenallee „Katz und Maus“ mit der Polizei spielten, „Free Palestine“, „Free Gaza“ und „ACAB“ („all cobs are bastards“, Anm. d. Red.) riefen, Steine und Flaschen warfen. Einen dieser Steine habe C. geworfen und damit einen Polizeibeamten getroffen.

Anschließend, so sagt ein Polizeibeamter, der an diesem Tag als Zeuge vor Gericht aussagt, sei C. weggerannt, zu einer kleineren Gruppe von Leuten, mit denen er seinen Treffer feierte, sich abklatschte, seiner Freundin habe er einen Kuss gegeben. Kurz darauf sei er verhaftet worden und habe sich gegen die Festnahme gewehrt, habe die Arme verschränkt und in Richtung der Polizisten getreten. Die Anklage lautet daher auf schweren Landfriedensbruch, versuchte gefährliche Körperverletzung sowie tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte.

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Ja, er habe einen Stein geworfen, lässt Lorenzo C. auf der Verhandlung durch seinen Anwalt erklären. Er wolle sich in Berlin als Tätowierer selbstständig machen, und bis dies so weit sei, wolle er in der Gastronomie arbeiten. Es gebe schon Vereinbarungen mit einem Café, er könne den Job direkt nach „Haftende“ antreten. Er sagt nichts dazu, warum er den Stein warf und ob es ihm heute leidtue, dass er damit einen Polizisten traf. Nur, dass es ihm um die politischen Verhältnisse gehe, das sagt er, um „diesen traurigen historischen Moment“.

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Vier Zeugen sind bei dem Prozess geladen, allesamt Polizisten, die am 18. Oktober im Einsatz waren. Er sei besorgt gewesen, noch „heile“ zu seiner Frau nach Hause zu kommen, sagt einer von ihnen. Seit dreieinhalb Jahren sei er nun Polizist, nie habe er eine so aggressive Stimmung gegen Polizisten erlebt. Gegenstände seien geschmissen worden, Pyros, Steine, „alles, was man tragen konnte, wurde geschmissen“.

Vor allem geht es in diesem Prozess aber um die genauen Details der Tat, vor allem um die Geschehnisse bei der Festnahme. Von wo schmiss Lorenzo C. den Stein? Wie reagierte er auf seine Festnahme? Trat er einen der Polizisten? Mit welchen Griffen versuchten diese, seinen Widerstand zu brechen? Verstand C. überhaupt ihre deutschen Anweisungen?

Es ist ein mühsames Klein-Klein, das hier vor Gericht von den Protesten, dem Kampf gegen oder für Israel bleibt. Immer und immer wieder geht der Anwalt des Angeklagten mit den Polizisten den Verlauf des Abends durch, sucht nach Widersprüchen, nach Schlupflöchern für seinen Mandanten, um einer drastischen Strafe zu entgehen, zumindest den Vorwurf zu zerstreuen, C. habe Widerstand gegen die Beamten geleistet, sich mit Gewalt gewehrt.

Lorenzo C. schaut meist abwesend in den Raum. Nur ab und zu wirft er einen Blick zu den Polizisten. Und zu den vielen Zuschauern des Prozesses, einmal lächelt er einer Frau zu, verdreht genervt die Augen.

Bei den Plädoyers dann holt sein Anwalt noch einmal weit aus, kritisiert die Verbotsverfügungen für palästinensische Demonstrationen und den Vorwurf, diese seien antisemitisch. Der Prozess habe gezeigt, dass andere als antisemitische Sprechchöre gerufen worden seien, dass es seinem Mandanten vor allem darum ging, auf das Leid in Gaza aufmerksam zu machen. „Eine Differenzierung hätte notgetan, das haben Sie vermissen lassen“, sagt der der Anwalt in Richtung Staatsanwalt. „Und ich meine, das liegt auch daran, dass wir uns seit dem 7. Oktober in einem permanenten Zustand der Aufregung befinden, der es nicht zulässt, andere Sichtweisen als die eigene zu akzeptieren.“

Dann, am späten Nachmittag, wird das Urteil gesprochen. Lorenzo C. wird verurteilt zu acht Monaten auf Bewährung.

QOSHE - Erster Prozess nach Pro-Palästina-Protesten in Neukölln – Bewährungsstrafe für Lorenzo C. - Niklas Liebetrau
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Erster Prozess nach Pro-Palästina-Protesten in Neukölln – Bewährungsstrafe für Lorenzo C.

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15.11.2023

Er leide an den vielen Toten auf beiden Seiten, sagt Lorenzo C. und meint die Toten in Israel und die in Gaza seit dem 7. Oktober. Er sagt diese Worte an diesem Mittwoch von der Anklagebank des Amtsgerichts Tiergarten aus. Lorenzo C., ein 25-jähriger Italiener mit langen, dicken Rastalocken und blassem Gesicht, muss sich hier verantworten, weil er bei einer verbotenen Palästina-Demo einen Pflasterstein auf einen Polizisten warf und diesen am Rücken traf.

Es sei bei der Demo darum gegangen, auf die unmenschlichen Zustände in Gaza aufmerksam zu machen, fährt C. fort, auf die „Schande, deren Komplizin auch die EU ist, mit ihrer bedingungslosen Unterstützung Israels“. Er kämpfe gegen den Krieg, jeden Krieg, gegen Rassismus, er sei kein Antisemit. Er sagt diese Worte auf Italienisch, ein Dolmetscher übersetzt.

Es ist der erste Prozess, der sich mit den Geschehnissen auf propalästinensischen Demonstrationen in Berlin seit dem 7. Oktober beschäftigt. Und es ist ausgerechnet ein Italiener, kein Deutscher, kein arabischstämmiger Migrant, kein Muslim, der angeklagt ist und sich schon seit vier Wochen in Untersuchungshaft befindet. Ein junger Tattookünstler aus Turin, der erst im Sommer, vor wenigen Monaten, zusammen mit seiner Freundin nach Berlin gezogen ist, um sich hier ein neues Leben aufzubauen. Viele Journalisten sind........

© Berliner Zeitung


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