Für viele ist es eine Selbstverständlichkeit, beim Fahrradfahren einen Helm aufzusetzen. Andere hingegen fühlen sich in ihrer Freiheit eingeschränkt. Und die Diskussion um eine Einführung der Helmpflicht beschäftigt nicht nur Radfahrer, sondern auch Politik und Wissenschaft.

Der Neurologe Prof. Dr. Frank Erbguth, Präsident der Deutschen Hirnstiftung, repräsentiert gleich mehrere Akteure: Privat ist er selbst Fahrradfahrer und hauptberuflich Experte in Sachen Gehirn. Er weiß, wie empfindlich unser Kopf ist und was passiert, wenn wir mit dem Rad stürzen.

Generell, sagt der Mediziner, sei die „Entwicklung von Verkehrstoten und Verletzten im Straßenverkehr, historisch betrachtet, erfreulich.“ Laut Statistischem Bundesamt lag die Zahl der Verunglückten im Straßenverkehr in den 1970ern im Schnitt bei rund einer halben Million Menschen, von denen rund 15.000 bis 20.000 tödlich verletzt wurden.

„Mit Einführung von Sicherheitsmaßnahmen wie der Gurtpflicht und auch der Promillebegrenzung sank die Zahl der Verkehrsopfer drastisch“, resümiert der Experte.

Die Gesamtzahl der Verunglückten blieb deutschlandweit bis weit in die Nuller Jahre hinein auf hohem Niveau und sank erst ab 2010 unter die 400.000er-Grenze.

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19.02.2024

18.02.2024

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Zugleich fielen die Zahlen der Todesopfer kontinuierlich, lagen bereits 1985 deutlich unter 10.000 pro Jahr. Heute sterben im Schnitt jährlich weniger als 3000 Menschen im Straßenverkehr.

Aber natürlich ist jeder Tote, jede Verletzte eine(r) zu viel. Die Zahlen des Statistischen Bundesamts belegen jedoch, dass geeignete Schutzmaßnahmen Erfolge zeigen. Denn auch wenn die absolute Zahl der Unfälle an sich nicht deutlich zurückgeht, so nimmt die Zahl der Getöteten doch ab.

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Wie viele dieser Menschen Radfahrer waren, verrät die Statistik nicht. Für Berlin gibt es eine eigene Verkehrsunfallstatistik, nach der zuletzt – im Jahr 2022 – 34 Menschen starben; das ist seit 2015 die niedrigste Zahl.

Für Fahrradfahrer stammen die aktuellsten Zahlen aus dem Jahr 2021. Im Polizeibericht heißt es: „6965 Verkehrsunfälle (VU) mit Radfahrerbeteiligung wurden im Jahr 2021 registriert. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum (7868 VU) wurde ein leichter Rückgang um 11,48 Prozent verzeichnet.“

664 Menschen wurden schwer verletzt, mehr als 4500 Menschen nur leicht. Zehn Radfahrer starben. „Somit war jeder 4. Verkehrstote bei einem Verkehrsunfall mit Radfahrerbeteiligung zu beklagen“, bilanziert die Polizei. Fahrradfahrer sind im Straßenverkehr überproportional gefährdet.

Die Behörde schreibt weiter: „Jeder dritte Verunglückte (35,97 Prozent) wird bei Verkehrsunfällen mit Radfahrerbeteiligung verzeichnet. Die Betrachtung der Verkehrsunfallschwere, die sich in den Unfallkategorien widerspiegelt, dokumentiert deutlich, dass Verkehrsunfälle mit Radfahrerbeteiligung zu 68,72 Prozent mit Personenschäden enden. (…) Im Gegensatz dazu wird nur bei jedem zehnten Verkehrsunfall insgesamt in Berlin ein Verkehrsteilnehmer körperlich geschädigt.“

Die meisten Unfälle passieren in Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg und Pankow, die wenigsten in Spandau. In den Wintermonaten gibt es weniger Radfahrer und somit auch weniger Unfälle mit ihnen. Fast die Hälfte aller Unfälle wird durch Radfahrer verursacht, so die Statistik. Sie schlängeln sich beispielsweise durch den Verkehr und halten den Sicherheitsabstand nicht ein.

Nun kann ein Fahrradhelm selbstverständlich keinen Unfall verhindern. Und er ist dem perfekten Sitz der Frisur auch nicht gerade zuträglich, stylemäßig so sexy wie eine Gelenkhandtasche. Aber: „Schädel-Hirn-Verletzungen sind in 50 Prozent der Unfälle für den Tod von Radlern verantwortlich“, sagt der Arzt Frank Erbguth. „Ein Helm kann vieles verhindern.“

Das Gehirn sei „eine vulnerable Körperstruktur, die insbesondere bei Stürzen vom Fahrrad stark gefährdet ist“, so der Experte. Häufig nämlich ist man beim Sturz vom Rad relativ schnell unterwegs – schneller zumindest als zu Fuß; und man ist in einiger Höhe, kann sich nicht abfangen. Und natürlich gibt es weder Airbag noch Knautschzone. Man ist den Kräften weitgehend schutzlos ausgeliefert.

Und es muss ja nicht einmal zu einem Autounfall kommen, um sich als Radfahrer oder Radfahrerin schwer zu verletzen: Man kann in die Tramschienen geraten, auf einer glatten Stelle wegrutschen, ein Schlagloch übersehen, beim Ausweichen das Gleichgewicht verlieren – oder aber gegen eine sich plötzlich öffnende Autotür eines am Straßenrand geparkten Pkws prallen. Da hat man keine Chance, den Kopf zu schützen.

Und so würden sich Fachleute wie der Mediziner Frank Erbguth durchaus eine Fahrradhelmpflicht wünschen, rein juristisch ist das aber schwierig. „Gemessen an der Zahl der tödlich Verunglückten wäre eine solche Vorschrift wohl ein zu großer Eingriff in die Rechte der Betroffenen“, so der Wissenschaftler.

Und deshalb bleibt ihm nichts, als an die Vernunft aller Radfahrer zu appellieren und es mit Argumenten zu versuchen.

„Rein biomechanisch fängt ein Helm etwa 80 bis 90 Prozent der einwirkenden Energie ab“, sagt Hirnforscher Frank Erbguth. „Die Häufigkeit von Schädel-Hirn-Verletzungen und Tod wird so um 60 bis 80 Prozent reduziert. Das sind beachtliche Zahlen.“

Bei Stürzen auf den Kopf kann es zu einer Hirnprellung kommen, medizinisch Kontusion genannt. Das ist eine Organschädigung durch stumpfe Gewalt, im konkreten Fall des Hirngewebes. Ebenso kann es passieren, dass das Gehirn an gleich zwei Stellen verletzt wird, nämlich an der Aufprallstelle selbst sowie am gegenüberliegenden Punkt.

„Durch einen heftigen Schlag schwappt das Gehirn quasi hin und her, es stößt an zwei Punkten gegen die Schädeldecke und wird daher doppelt verletzt. In der Medizin nennen wir das Coup und Contrecoup“, erklärt Frank Erbguth.

So kommt es zu einer Gewebsschädigung, die im schlimmsten Fall zur Folge hat, dass irreparable Schäden auftreten. „Je nachdem, wo die Verletzung stattfindet, gibt es eine ganze Palette an möglichen Folgen. Am häufigsten ist die Schädigung des Bewusstseins“, so der Experte.

Dazu gehören nicht nur das Wachkoma, medizinisch areaktive Wachheit genannt, sondern auch sonstige Bewusstseinstrübungen, Einschränkung der Beweglichkeit, Artikulationsstörungen und sehr langsames Sprechen.

Wenn man auf das Gesicht fällt, wird vor allem das Frontalhirn geschädigt. „Das ist zuständig für unsere Moral, für das Planen und die Verhaltenssteuerung“, sagt der Neurologe. „Bei Schädigungen kann es zum Beispiel sein, dass man sich nicht mehr zurechtfindet oder auch distanzlos wird; eine klassische Persönlichkeitsstörung. Auch die Merkfähigkeit kann in Mitleidenschaft gezogen werden.“

Bei einem seitlichen Sturz fällt man häufig auf die Schläfenlappen. „In deren Nähe verlaufen die motorischen Bahnen, und es kann zu Lähmungen kommen. Auch Sprach- und Sprechstörungen sind möglich“, so Erbguth. „Ein Helm kann hiervor schützen.“

Durch einen Sturz vom Fahrrad kann es auch zu Einblutungen am Gehirn kommen. Hier unterscheiden Fachleute zwischen der epiduralen und subduralen Einblutung.

Die äußerste harte Hirnhaut ist die Dura; sie liegt zwischen Gehirn und Schädelknochen. Sind die arteriellen Blutgefäße zwischen Dura und Schädeldecke verletzt, nennt man das eine epidurale Blutung. Bei einer Einblutung zwischen Dura und Hirn spricht man von einer subduralen Blutung.

Diese wird häufig von Venen verursacht. „Zwischen der Dura und dem Schädel verlaufen fast nur die kleinen Arterien. Daher kommt es dort so gut wie nicht zu venösen Blutungen, sondern nur zu arteriellen“, so der Mediziner. „Dagegen verlaufen zwischen der Dura und dem Gehirn fast nur oberflächliche Venen, so dass die subduralen Blutungen venöse sind.“

Da der Schädelknochen den Platz im Kopf begrenzt, erhöht die Einblutung den Druck im Kopf. Es kann ja nirgends hin abfließen. „So wird das eigentlich unverletzte Gehirn geschädigt. Man spricht von einer sekundären Schädigung“, sagt Frank Erbguth. „Weil das Hirn dem Druck, der durch die Einblutung entsteht, nicht ausweichen kann, tritt es Richtung Hinterhauptloch aus und es kommt zu einer Einklemmung.“

Das ist der Bereich, wo am unteren Teil des Hinterkopfes das Rückenmark beginnt. Wird das Gehirn bis hierhin geschoben, stirbt man. Die epidurale Schädigung des Hirns, also die Blutung oberhalb der Hirnhaut, tritt relativ zeitnah nach dem Unfall ein und wird in der Regel schnell bemerkt.

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Anders bei der subduralen Einblutung, die in unmittelbarer Nähe des Gehirns stattfindet. Hier tröpfelt und fließt das Blut langsam, sodass sich der schädigende Bluterguss erst allmählich und mit deutlichem Abstand zum Unfall entwickelt.

„Wenn man Stunden nach dem Unfall zunehmende Kopfschmerzen bemerkt, Denkstörungen oder neurologische Auffälligkeiten, muss es schnell gehen“, warnt der Neurologe.

Man sollte sofort in die Rettungsstelle fahren und vom Radunfall sowie den Beschwerden – dazu zählen auch kribbelnde Gliedmaßen – berichten. Im Zweifel muss eine Computertomografie (CT) gemacht werden.

Sofern sich der Verdacht bestätigt, wird normalerweise operiert, sodass das Blut abfließen kann. Hierzu wird in der Regel die Schädeldecke geöffnet. Die Folgen sind nicht absehbar; weder ist klar, dass man überlebt, noch welche Schädigungen man davonträgt.

In der Gesamtschau „ist es also ratsam, möglichst immer einen Fahrradhelm zu tragen, auch auf den 200 Metern zum Bäcker, denn passieren kann ja immer etwas“, sagt Stiftungspräsident Frank Erbguth. „Es ist ein fataler Blödsinn zu glauben, es könne einem nichts passieren, weil man ja gut aufpasse.“

Und das ist in der Tat eine alte Fahrschullehrer-Weisheit: Rechne immer mit der Dummheit der anderen!

QOSHE - Experte: Das passiert beim Sturz, wenn man keinen Fahrradhelm trägt - Nicole Schulze
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Experte: Das passiert beim Sturz, wenn man keinen Fahrradhelm trägt

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21.02.2024

Für viele ist es eine Selbstverständlichkeit, beim Fahrradfahren einen Helm aufzusetzen. Andere hingegen fühlen sich in ihrer Freiheit eingeschränkt. Und die Diskussion um eine Einführung der Helmpflicht beschäftigt nicht nur Radfahrer, sondern auch Politik und Wissenschaft.

Der Neurologe Prof. Dr. Frank Erbguth, Präsident der Deutschen Hirnstiftung, repräsentiert gleich mehrere Akteure: Privat ist er selbst Fahrradfahrer und hauptberuflich Experte in Sachen Gehirn. Er weiß, wie empfindlich unser Kopf ist und was passiert, wenn wir mit dem Rad stürzen.

Generell, sagt der Mediziner, sei die „Entwicklung von Verkehrstoten und Verletzten im Straßenverkehr, historisch betrachtet, erfreulich.“ Laut Statistischem Bundesamt lag die Zahl der Verunglückten im Straßenverkehr in den 1970ern im Schnitt bei rund einer halben Million Menschen, von denen rund 15.000 bis 20.000 tödlich verletzt wurden.

„Mit Einführung von Sicherheitsmaßnahmen wie der Gurtpflicht und auch der Promillebegrenzung sank die Zahl der Verkehrsopfer drastisch“, resümiert der Experte.

Die Gesamtzahl der Verunglückten blieb deutschlandweit bis weit in die Nuller Jahre hinein auf hohem Niveau und sank erst ab 2010 unter die 400.000er-Grenze.

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Zugleich fielen die Zahlen der Todesopfer kontinuierlich, lagen bereits 1985 deutlich unter 10.000 pro Jahr. Heute sterben im Schnitt jährlich weniger als 3000 Menschen im Straßenverkehr.

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Für Fahrradfahrer stammen die aktuellsten Zahlen aus dem Jahr 2021. Im Polizeibericht heißt es: „6965 Verkehrsunfälle (VU) mit Radfahrerbeteiligung wurden im Jahr 2021 registriert. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum (7868 VU) wurde ein leichter Rückgang um 11,48 Prozent verzeichnet.“

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© Berliner Zeitung


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